Wie meine Schwester zu meiner wichtigsten Freundin wurde

Geschwister können die besten Freunde sein
Wie finde ich eine gute Freundin? Diese Frage musste ich mir zum Glück nie stellen, denn meine Schwester ist für mich zur besten Freundin der Welt geworden. Doch bis dahin war es ein langer Weg ...
Es ist mitten in der Nacht, drei Uhr morgens. Ich bin allein, irgendwo auf einem Parkplatz in einer fremden Stadt. Zwei Stunden zuvor hat mein jetzt Ex-Freund mir gesagt, dass er mich doch nicht liebt . Ich konnte nur noch ein paar Kleider in eine Tasche stopfen, dann bin ich aus der Wohnung geflüchtet. Irgendwie muss ich die Stunden bis zur Morgendämmerung überstehen - bis ich in ein Hotel ziehen kann. In diesem Moment will ich nur noch eins: mit jemandem sprechen, ihm anvertrauen, was mir passiert ist, mit jemandem sprechen, der für mich klar denkt und der Nacht den Schrecken nimmt. Ich starre auf mein Handy, blättere durch das Adressbuch, lasse die Freunde Revue passieren, die ich jetzt vielleicht anrufen wollen sollte. Und wähle die Nummer meiner Schwester.
Zwischen Familienmitgliedern, besonders zwischen Eltern und Kind oder Geschwistern, kann keine Freundschaft sein, sagt der Philosoph Michel de Montaigne in seinem Aufsatz „Über die Freundschaft“. Montaigne meint, durch zu große Nähe zwischen so nahen Verwandten würden natürliche Pflichten verletzt. Familienmitglieder könnten sich zum Beispiel nicht alles sagen, was sie denken, da dies zu einer ungehörigen Vertraulichkeit führen würde.Was Geschwister betrifft, muss ich Montaigne jetzt widersprechen. Denn meine kleine Schwester ist für mich zu meiner wichtigsten Freundin geworden.
Das war natürlich nicht immer so. Gerade in unserer Jugendzeit gab es reichlich Tränen, knallende Türen und lautstarke Auseinandersetzungen. Ich konnte ihr Verhalten nicht nachvollziehen, sie meines nicht und viel zu oft meinte ich, ihr sagen zu müssen, wie sie ihr Leben leben sollte. Meine Motive waren Sorge und Liebe . Doch dadurch nahm ich ihr den Raum, den sie brauchte, um sich selbstständig entwickeln zu können.
Heute weiß ich, dass besonders diese Phase wichtig war, um uns zu Freundinnen zu machen. Ein bekanntes Zitat von einem Unbekannten zur Freundschaft lautet: „Ein Freund ist jemand, der dich mag, obwohl er dich kennt.“ Wir kennen die tiefsten Abgründe von uns beiden, wissen um viele Fehler, die die andere gemacht hat. Und wir mögen uns trotzdem und ein bisschen auch gerade deswegen, denn das nachsichtige Wissen um unsere Schwächen ermöglicht uns eine besondere Nähe. Zudem fällt es leichter, die Reaktionen der anderen zu verstehen, da wir uns vieles durch Hintergrundwissen erklären können.
Wieso ist nun aber meine Schwester nicht einfach nur eine Freundin, sondern gleich die wichtigste?
Bei der Antwort auf diese Frage spielt eine Tatsache eine wichtige Rolle, die der Soziologe Rudolf Stichweh folgendermaßen benennt: „Im Vergleich zur Freundschaft hat die Familie in vieler Hinsicht Vorteile. Ihr größter ist ihre „Unkündbarkeit“.“ Wären wir einfach nur Freundinnen gewesen, die sich vielleicht bei einem Hobby kennengelernt hätten, wäre uns nicht immer bewusst gewesen, dass wir auf ewig Schwestern und somit verbunden bleiben, hätten wir an so manchem Punkt wahrscheinlich den Kontakt gekappt.
Gerade heute ist es ja so, dass Menschen seltener echte Freunde haben und sich mehr auf ein leicht variables Netzwerk an Bekannten stützen, das sich entsprechend der Lebensumstände schnell ändern kann. Immer mehr Menschen pflegen vor allem solche Freundschaften, bei denen der gegenseitige „Nutzen das Motiv der Befreundung bildet“, wie der Philosoph Aristoteles es in seiner Nikomachischen Ethik formuliert.
Viele pflegen auch Freundschaften , die allein dem Zweck dienen, gemeinsam Spaß zu haben. Diese Freundschaften sind natürlich auch wertvoll und unverzichtbar für ein erfülltes Leben. Doch besonders glücklich können sich zweifellos all jene schätzen, die eine “vollkommene Freundschaft” gefunden haben, wie Aristoteles sie nennt. In einer solchen Freundschaft sind, so sagt der Philosoph, „treffliche Charaktere“ miteinander befreundet, weil sie sich gegenseitig um ihrer selbst willen schätzen. Diese Form ist selten geworden und um sie zu erreichen, braucht es viel Zeit und gegenseitiges Vertraut-werden. Diese Zeit hatten meine Schwester und ich.
Als ich meiner Schwester erzählte, dass ich einen Text über unsere Freundschaft schreiben würde, war sie gerührt. Aber nicht nur das, sie dachte auch sofort mit mir zusammen über unsere Freundschaft nach, und sagte etwas, das vielleicht am deutlichsten macht, weshalb unsere Verbindung so besonders ist. Unsere Freundschaft sei „bedingungslos“, sagte sie. „Du müsstest schon sehr viel anstellen, damit ich dich nicht mehr mag“. Ich konnte ihr eben das umgekehrt nur sehr bestätigen, denn ich empfinde ganz genauso. Und selbst wenn das geschehen würde, würde ich wahrscheinlich immer noch jeden verprügeln, der ihr etwas antun will - wie das Schwestern eben tun: Sie passen aufeinander auf, egal, was kommt.
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