Geheime Sexfantasien
Sie denkt:
Ich bin ein einigermaßen sexuell aufgeklärter Mensch. "Aufgeklärt" bedeutet in meinem Fall: Ich ziehe beim Sex den Bauch nicht ein, und das Licht bleibt an. Ich weiß, was mir im Bett gefällt. "Einigermaßen" heißt, dass ich nicht darauf stehe, Markus eine detailgetreue Gebrauchsanweisung an die einfühlsame Hand zu geben. So nach dem Motto: "Fass mich jetzt mal da an. Und jetzt da. Und nicht so ruckelig, sondern eher so ...". Das muss ich aber auch nicht, denn zwischen mir und Markus stimmt der Sex. Zumindest haben wir nach sechs Jahren Beziehung noch Sex. Wir springen jetzt nicht von Höhepunkt zu Höhepunkt, und auch die Zeiten mühsamer Tantra-Turnübungen sind vorbei. Wir haben uns eingependelt auf einem Level, das uns beide ... sagen wir mal ... zufrieden stellt. Auch wenn sich der Ausdruck "zufrieden stellend" anhört wie eingeschlafene Füße.
Manchmal frage ich mich, ob uns nicht vielleicht ein bisschen mehr Abwechslung gut tun würde. Vielleicht ist unser Sexleben tatsächlich ein wenig zu eingespielt. Ein bisschen mehr von der Leidenschaft, die einem beim Zappen durch die Hotelkanäle begegnet (natürlich nur versehentlich) - das wäre traumhaft. Was nicht bedeutet, dass ich es mit einem Fremden im Aufzug tun will oder mit Plüschhandschellen gefesselt in einem düsteren Nachtclub. Ich will auch nicht, dass Markus mir Tequila aus dem Bauchnabel schlabbert. Was ich aber will, ist begehrt zu werden, und zwar volle Kanone. Mit Kleider vom Leib reißen, alles sofort wollen - und das nicht erst nach dem Zähneputzen. So wie früher, als wir noch frisch verliebt und verrückt nacheinander waren. Mit den Jahren hat sich das schon gewandelt. Heißt das aber, dass ich heute dazu - so will es mir eine einschlägige Zeitschrift empfehlen - Triangel-Dessous aus Alufolie, ein Stethoskop um den Hals, Reiterstiefel an den Füßen und die Beweglichkeit einer Entfesslungskünstlerin brauche? Das würde weder Markus noch mich anregen. Er fände es wohl eher amüsant. Oder vielleicht doch nicht? Irgendwo muss diese Zeitschrift doch noch sein ...
Als ich abends nach Hause komme, ist die Stimmung irgendwie anders. Eine gewisse Spannung liegt in der Luft. Als ob Markus spürt, dass ich etwas plane. Während er das Geschirr wegräumt, verziehe ich mich ins Bad. Ich muss mich vorbereiten auf das was kommt. Nach gefühlten 400 Stunden harter Vorbereitungsarbeit verlasse ich die schützende Nasszelle, fühle mich in meinem Bademantel nackter denn je. Wird er mich überhaupt sexy finden, wenn ich gleich vor ihm stehe? Markus sieht mich an und wirkt nervös. Geht auf mich zu, als ob es das erste Mal wäre, zieht die Schlaufe meines Bademantels auf, stutzt kurz ob meines Anblicks. Die Überraschung ist wohl gelungen. Ich lächle, als er mich kurzerhand auf den Küchentisch hievt. Genau dieses Prickeln habe ich mir gewünscht.
Er denkt:
Kürzlich habe ich beim Aufräumen eine aufgeschlagene Zeitschrift im Altpapier entdeckt. "Die besten Sextipps für Sie und Ihn" lautete das Thema. Das Heftchen sah aus, als ob Natascha es mehrmals intensiv gelesen und danach zerknüllt hätte. Seit wann interessiert sie sich denn für so etwas? Leise Unruhe regte sich: Fehlt ihr was? "Alter, reg dich ab", sagte ich mir. "Nach sechs Jahren Beziehung weißt du doch, was ihr gefällt. Und beschwert hat sie sich auch noch nie". Wie ich aus der Zeitschrift lernte, hat das aber nichts zu bedeuten. Ich blätterte weiter, erblickte "Die schönsten Sextoys" - und meinte sogar, bei dem einen oder anderen Produkt ein ausradiertes Kreuz zu erkennen. Die Unruhe in mir rumorte: Natascha braucht Hilfsmittel. Ich kann sie nicht mehr befriedigen. Meine männlich geschwellte Brust schrumpfte. Ich bringe es nicht mehr - und habe es nicht mal bemerkt.
Dabei finde ich unser Sexleben voll okay. Wenn wir miteinander schlafen, dann ist das sehr gefühlvoll, wir sind uns nah, brauchen keine Antörner, konzentrieren uns voll aufeinander. Nicht so wie bei meinem Kumpel, der ständig von der Reizwäsche seiner Freundin erzählt und jedes Mal sagt, er habe es ihr so richtig "besorgt". Ich sage dann: "Ach ja, haha" und denke: "Wir sind doch nicht an der Fleischtheke". Klar fände ich es auch mal schön, ein bisschen mehr Abwechslung ins Spiel zu bringen. Aber doch nicht mit wild wedelnden Vibratoren (ich brauche keine Konkurrenz), nicht mit kratziger Spitzenunterwäsche, Plüschhandschellen oder triefendem Kerzenwachs (aua!). Sondern mit mehr Spontanität und ohne Rücksicht auf Verluste - so wie früher. Unter der Dusche am Morgen, in der Mittagspause kurz vor dem wichtigsten Geschäftsmeeting aller Zeiten, abends im Flur vor der Schlafzimmertür. Mit Kleider vom Leib reißen und alles sofort wollen und nicht mehr warten können. Aber inzwischen sind wir irgendwie ruhiger, und so richtig spontan sind wir schon lange nicht mehr. Warum eigentlich?
Als Natascha an diesem Abend nach Hause kommt, bin ich verunsichert. Wir essen zusammen, ich stelle das Geschirr in die Spüle. Sie schaut mich nachdenklich an, steht schließlich auf und verschwindet im Bad. Dort bleibt sie. Sehr lange. Als sie zurückkommt, hat sie einen Bademantel an, unter dem etwas seltsam hell hervorschimmert. Wenn sie unter dem Frottee einen Vibrator versteckt, kann ich meinen letzten Rest männlichen Stolzes zusammen mit den Essensresten entsorgen. Aber es hilft ja nichts. Ich gehe einen Schritt auf sie zu, öffne den Bademantel und sehe: nichts. Sie steht vor mir, splitterfasernackt, lächelt etwas verlegen. Ich lächle auch. Alles ist gut. Sie will mich, niemand anderen und ohne Hilfsmittel. Und ich will sie auch. Jetzt sofort. Ohne Reizwäsche, ohne Plüschhandschellen, ohne alles. Und das ist ganz schön aufregend.