"Ich hatte niemals eine Mutter"
Der "Simply Red"-Sänger steht uns Rede und Antwort
Nach wilden Partys und jeder Menge Frauen scheint Mick Hucknall ruhiger geworden zu sein. Anlässlich des 30-jährigen Band-Bestehens und des neuen Albums "Big Love" (VÖ: 29.5.2015) trafen wir den Musiker zum ehrlichen Interview in Hamburg.
Mick, wir feiern 30 Jahre "Simply Red". Erinnern Sie sich noch an den Moment, in dem Sie das erste Mal ein Lied von Ihnen im Radio hörten? Ja! Das war ein wirklich packender Augenblick in meinem Leben. Es war der Song "Money's too tight to mention". Ich war ekstatisch! Ich konnte nicht glauben, was gerade geschah. Dass der Song dann auch noch ein Hit wurde, war unfassbar für mich. Ich wollte immer als Musiker erfolgreich sein. Als es dann tatsächlich und real geschah, fühlte es sich an wie ein Traum.
30 Jahre sind eine lange Zeit – wie fühlen Sie sich angesichts der Summe der Jahre? Es ist seltsam: Ich habe gar nicht wirklich wahrgenommen, wie die Jahre vorbeigegangen sind. Das 25-jährige Bandjubiläum habe ich beispielsweise komplett verpasst. Im vergangenen Jahr kam mein Manager zu mir und sagte: "Weißt du eigentlich, dass du 2015 dein 30-jähriges Jubiläum hast? Wie möchtest du es feiern?" So kam die Idee, eine neue Tournee zu organisieren, um mit den Fans eine Party zu feiern. Wenn du keine Geburtstage oder Jubiläen mehr feierst, was hast du dann noch von Leben?
"Die Beerdigung meines Vaters war ein Tag voller Freude"
Sie feiern also gerne? Wenn es einen Grund gibt, ja. Geburtstage, den Hochzeitstag - das sind Anlässe zur Freude. Sogar als mein Vater starb, haben wir gefeiert. Bei einer irischen Totenwache geht es darum, das Leben des Verstorbenen zu feiern. Natürlich gab es auch Tränen - aber wir haben uns gemeinsam an die guten Zeiten mit ihm erinnert. Die Beerdigung meines Vaters war ein Tag voller Freude für uns alle. Ist das nicht eine wunderschöne Art, sich von einem geliebten Menschen zu verabschieden?
Sie hatten ein sehr enges Verhältnis zu Ihrem Vater: Er zog Sie alleine groß, weil Ihre Mutter die Familie im Stich ließ, als Sie drei Jahre alt waren. Was haben Sie sich für ihr eigenes Vatersein von ihm abgeschaut? Er schuf eine Art Autopilot für mich. Ich wusste instinktiv sofort, wie ich mich als Vater verhalten sollte. Als meine Tochter geboren wurde, hatte ich nur noch den Wunsch, meine Karriere zu beenden und nichts weiter zu sein als Vater. Ich wollte mich komplett der Familie widmen. Mein Vater arbeitete sechs Tage die Woche, zwei davon nur halbtags. Er hat jeden Tag für mich gekocht, die Wohnung geputzt, die Wäsche gemacht. Er alleine zog mich groß. Es gab nie mehr eine andere Frau als meine Mutter, keine Freundinnen. Ich hatte keine Großeltern – die Eltern meines Vaters waren bereits gestorben, der Kontakt zu den Eltern meiner Mutter riss ab, als sie uns verließ. In meinem Leben gab es nur meinen Vater und mich. Als mein Vater starb, brach meine ganze Welt zusammen. Er war alles, was ich hatte - meine komplette Familie. Plötzlich war da nichts mehr. Es hört sich vielleicht wie ein Widerspruch an, aber aus diesem Grund fiel es mir so leicht, ganz für die Familie da zu sein. Ohne meine Frau und meine Tochter wäre ich völlig verloren gewesen, als mein Vater ging. Sie haben mich gerettet. Mit der aktuellen CD feiere ich sozusagen die Familie: Es geht um die schönen Momente, die traurigen, das Glück und die Schwierigkeiten. Dies sind Erfahrungen, die jeder Mensch macht und kennt.
Das stimmt. Man hat den Eindruck, dass es sehr persönliche Songs sind, in denen Sie sehr viel über sich selbst erzählen... Mit dem Album knüpfe ich an den Hit "Holding back the years" an. Wenn du ein sehr persönliches Lied schreibst, kann sich der Zuhörer automatisch damit identifizieren. Es wird dein Lied, weil du es in deine eigene Welt hinein interpretierst. Wenn jemand das Lied "Dad" hört, hoffe ich, dass er dabei an seinen eigenen Vater denkt. Das ist das Wunder der Musik – keine andere Kunst kann das! Die Melodie trifft dich direkt ins Herz. Worte können das nicht ausdrücken. Ich bin so stolz darauf, Musiker und Songschreiber zu sein. Das war immer mein Traum.
Wie würden Sie Ihre Gefühle ausdrücken, wenn Sie nicht das Talent zum Songschreiben hätten? Das möchte ich mir gar nicht vorstellen! Bei dieser Frage kommt mir als allererstes eine Erinnerung ins Gedächtnis: Ich sehe mich mit 17 Jahren im Haus meines Vaters. Ich hatte gerade das Gitarre-Spielen gelernt und schrieb den Song "Holding back the years". Auch dieser Song ist sehr persönlich und handelt von mir und meinem Vater. Wir alle kennen das Gefühl, das Zuhause zu verlassen. Da ist etwas, das dich wegtreibt - und gleichzeitig kannst oder willst du nicht loslassen, von dem, was du hast und kennst. Darum geht es in dem Song.
Als Sie ein Popstar wurden begannen Ihre wilden Jahre - viele Frauen, Partys, Alkohol. Brauchten Sie diese Exzesse, um dort anzukommen, wo Sie heute sind? Ich war ein Suchender. Ich habe nach etwas gesucht, das das emotionale Loch in meiner Welt füllte.
"Ich musste lernen zu lieben"
Sie waren mit vielen, teilweise auch berühmten Frauen, wie Catherine Zeta-Jones, Steffi Graf oder Brigitte Nielsen zusammen. Waren Sie in dieser Zeit je wirklich verliebt? Ja, ich war sicherlich auch verliebt. Aber ich wusste damals nicht, wie man Liebe zurückgibt. Ich konnte mit der Liebe nicht umgehen. Ich hatte immer Angst, die Frauen würden mich verlassen. Bevor sie es tun konnten, habe ich es getan. Ich kannte es nicht anders: Meine eigene Mutter hatte mich schließlich im Stich gelassen.
"Ich hatte niemals eine Mutter"
Haben Sie je nach Ihrer Mutter gesucht und versucht, wieder Kontakt aufzunehmen? Nein. Wenn du niemals eine Mutter hattest, kannst du dir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie da ist. Wenn du mit beiden Elternteilen aufgewachsen bist, hast du keine Ahnung, wie es ist, wenn da nur dein Vater ist. Ich hatte niemals eine Mutter. Ich musste viele Erfahrungen machen, um zu begreifen, was es bedeutet, eine echte Familie zu haben.
Als Musiker reisen Sie um die ganze Welt. Nehmen Sie die Familie mit? Wenn ich im Herbst wieder auf Tournee gehe, werden mich meine Frau und meine Tochter größtenteils begleiten. Wir haben eine Nanny, die Teilzeit bei uns arbeitet und die eigentlich Lehrerin ist. Sie unterrichtet unsere Tochter. Zum Glück besucht sie eine Schule, die es unterstützt, wenn Kinder mit ihren Eltern die Welt bereisen. Sie freut sich schon besonders auf Australien – nur vor den Spinnen dort hat sie Angst. Aber ich ganz genauso (lacht).
Mag Ihre Tochter Ihre Musik? Ihr Lieblingslied auf der aktuellen CD ist "The ghost of love". Außerdem mag sie "Shine on" - ist Spitzname ist "funkelnde Augen" (englisch "shiny eyes").
Sind Sie ein strenger Vater? Nein, überhaupt nicht. Wir haben ein sehr positives Verhältnis zueinander. Es gibt keinen Grund, streng zu sein, weil gar nicht erst diese Spannung entsteht, in der Verbote notwendig wären. Mein Ziel ist, dass sie ihre eigene Persönlichkeit bestmöglich entwickeln kann. Also gebe ich ihr so viel Liebe wie möglich – und fördere sie in dem, was ihr wichtig ist.
Zeigt sie bereits musikalisches Talent? Im Moment sagt sie immer, dass sie später einmal Wissenschaftlerin werden möchte. Sie liest sehr viel und malt gerne. Sie kann werden, was auch immer sie möchte. Ich werde sie in jedem Fall unterstützen. Ich werde sie aber auch nicht antreiben, irgendetwas zu tun. Mein Vater hat mich niemals zu irgendetwas gezwungen. Ich konnte tun und lassen, was ich will.
War das gut oder schlecht? Beides. Meistens schlecht (lacht). Gerade in meinen Teenager-Jahren liefen die Dinge teilweise aus der Bahn...
Sie hätten sich also gewünscht, dass Ihr Vater strenger gewesen wäre? Er konnte mich nicht bändigen. Ich war ein wilder Junge. Ich hätte sehr leicht auf die schiefe Bahn geraten können. Gerade in der Pubertät hat mir eine Mutter gefehlt. Mein Vater hat nicht viel geredet. Ich wusste nichts vom Leben. Mir fehlte jegliche soziale Kompetenz. Mein Vater und ich sind ständig aneinander geraten, weil er mir nie genügend Grenzen aufgezeigt hat und ich völlig orientierungslos war. Mit 16 wurde ich Punk-Rocker. Ich war voller Rebellion und ständig wütend.
Irgendwann kam die Wende in Ihrem Leben und sie ließen die wilden Zeiten hinter sich. Wie hat es Ihre Frau Gabriella geschafft, Sie zu zähmen? Sie musste mich gar nicht wirklich zähmen. Ich war ganz einfach an dem Punkt angekommen, an dem ich eine Familie haben wollte. Ich wollte etwas, das ich nie zuvor im Leben gehabt hatte. Ich brauchte einen Halt. Mein Leben war so leer. Ich hatte nichts. Es war alles eine einzige Illusion. Innerlich verkümmerte ich langsam dahin.
Sie suchten nach Ruhe? Vielleicht. Aber mein Leben heute, hat mit Ruhe nicht wirklich zu tun. Ich würde mich gerne mehr ausruhen (lacht). Mein Leben heute ist einfach ganz anders, als die Jahre früher. Ich war bereit für eine Veränderung. Alles im Leben kann sich immer wieder verändern. Ich dachte, ich würde nie wieder eine Simply Red-Platte aufnehmen – und jetzt habe ich es doch getan! Weil ich gemerkt habe, dass die Leute mich immer noch mögen und ich mir in meinem Kopf vorgestellt habe, wie sich Simply Red im Jahr 2015 anhören könnte. Ich wollte eigentlich nur zwei, drei Songs schreiben für eine Greatest-Hits-CD – aber dann wurden es immer mehr. Es war eine Art Wettbewerb mit mir selbst. Ich habe mir gesagt: "Du kannst es schaffen, alle Songs selbst zu schreiben. Tu es!" Zwischen dem Frühstückmachen für meine Tochter oder dem Spaziergang mit dem Hund, habe ich mich hingesetzt und geschrieben. Das ist der Grund, warum sich auf der Platte alles um die Familie dreht – sie entstand in diesem Umfeld.
Denken Sie, dass Sie mit Gabriella eine Liebe gefunden haben, die bis zum Lebensende halten wird? Ich kann nur hoffen, dass diese Liebe halten wird. Man weiß niemals, was passiert. Das Leben ist so kostbar. Ich könnte die Treppe runterfallen und mir das Genick brechen. Es kann jede Sekunde vorbei sein. Du kannst nur leben – und jeden Moment genießen!
Fällt es Ihnen immer leicht, jeden Moment zu genießen oder sind Sie manchmal auch frustriert und erschöpft vom Leben? Ich habe kaum mehr Momente, in denen ich wirklich frustriert bin. Vielleicht kommt es daher, dass ich nicht mehr jeden Abend sechs Flaschen Champagner trinke, wie ich es früher häufig getan habe. Ich gönne mir höchstens ab und zu eine halbe Flasche Wein. Es ist ein solches Vergnügen, einem Kind beim Großwerden zuzusehen. Das ist eine so wundervolle Sache! Wir alle werden älter und verändern uns – alles ist stetig in Bewegung. Ich finde diese Entwicklungen ungeheuer spannend.
Bedauern Sie, diese Erfahrung nicht schon früher gemacht zu haben? Ich musste die Erfahrungen machen, um bereit zu sein für das, was ich heute habe. Ich bin jetzt 54 Jahre alt. Die meisten Männer in meinem Alter befinden sich bereits in ihrer zweiten Ehe, haben mehrere Kinder – vielleicht eines aus erster Ehe, ein weiteres aus der zweiten. Das bringt viele Probleme mit sich. Ich glaube, zu mir hätte dieser Lebensweg nicht gepasst. Ich denke, wenn ich schon früher Vater geworden wäre, hätte ich mich auch um das Kind kümmern wollen. Dann hätte ich die Musik viel früher aufgegeben.
2007 passierte genau das: Sie lösten die Band zum ersten Mal auf. Ich wusste, ich werde Vater – und plötzlich wollte ich das Leben als Popstar nicht mehr. Ich wollte nie mehr arbeiten in meinem Leben. Ich hatte es satt, von meinem Manager ständig unter Druck gesetzt zu werden – „Wir sollten ein neues Album aufnehmen“; „Wir sollten wieder auf Tournee gehen.“ Mir war alles egal. Ich hatte keine Lust mehr. Ich hatte genug Geld verdient. Ich war glücklich darüber, zuhause bleiben zu dürfen. Ich liebe es bis heute, bei mir daheim sein zu können. Ich liebe meine Küche und stehe gerne am Herd. Daran hat sich nichts geändert. Es ist allein das Jubiläum, das mich dazu inspiriert hat, wieder nach draußen zu gehen. Das war für mich selbst die größte Überraschung.
"Mit dem Alter wird alles besser"
Wir freuen uns alle sehr, dass Sie Ihre frühzeitige Rente beendet haben! Wenn ich in meiner Küche stehe, ist das alles andere als Rente! Da bin ich sehr aktiv! (lacht) Aber ich brauche nicht mehr den Stress und die Aufregung, die das Showbusiness mit sich bringen.
"Lieber alt sein, als tot"
Was sind die Vorteile am Älterwerden? Eigentlich wird alles besser mit dem Alter. Irgendwer sagte einmal zu mir: "Alt sein ist besser als tot sein!" Ja, so ist es! Lebe! Mach weiter! Vielleicht tut einem ab und zu das Bein weh oder irgendetwas anderes. Vielleicht entdeckt man im Spiegel Falten, von denen man sich wünscht, man hätte sie nicht. Und dennoch ist alles besser, als tot zu sein!
Würden Sie sich Botox spritzen lassen, damit die Falten verschwinden? Ich habe meine Feuchtigkeitscreme! Das muss doch reichen, oder? (lacht). Ich sehe keinen Sinn darin, mehr zu tun. Ich bin der, der ich bin. So sehe ich aus, wenn ich morgens aus dem Bett aufstehe.
Wie fühlen Sie sich, was die bevorstehenden Konzerte angeht? Denken Sie, dass Sie die nötige Fitness haben für eine zweitstündige Show? Wir werden sehen, wie fit ich bin. Ich habe in den vergangenen Jahren auch ab und zu einzelne Konzerte gegeben. Ich bin nicht komplett aus der Übung (lacht).
Ihr Rezept zum Glücklichsein? Es gibt eine Zeile in dem Lied "Nature boy", die ich sehr mag und die eigentlich alles aussagt: "Das Größte, was dir im Leben passieren kann, ist zu lieben und zurück geliebt zu werden." Allein darum geht es! Ich selbst musste lernen zu lieben und zuzulassen geliebt zu werden – deshalb bedeutet es mir umso mehr!
Wer "Simply Red" live sehen will: Die Band ist anlässlich des 30-jährigen Band-Jubiläums auf großer Deutschland-Tour. Das neue Album "Big Love" gibt es ab sofort im Handel.
Das Interview führte: Christine Staab für BAUER STARS&STORIES
Fotos: Andreas Hornoff/actionpress für Bauer Stars&Stories