Jupiter Jones: Still-Sänger Nicholas Müller über seine Angststörung
Quälende Angststörung! Wie Panikattacken ihn 2014 dazu zwangen, aus der Band Jupiter Jones auszusteigen, berichtet Sänger Nicholas Müller hier im Interview.
Nicholas Müller: Wie Angst ihn zwang, aus der Band "Jupiter Jones" auszusteigen
„So still, dass jeder von uns wusste, das hier ist für immer, für immer und ein Leben und es war so still, dass jeder von uns ahnte, hierfür gibt's kein Wort, das jemals das Gefühl beschreiben kann ...“
Das unfassbar emotionale Lied „So still“ der Band „Jupiter Jones“ kennt jeder. Doch was kaum einer weiß – während wir alle dieses wunderschöne Lied im Radio hörten, kämpfte Sänger Nicholas Müller verzweifelt mit einer Angststörung. So lange, bis er schließlich nicht mal mehr die Bühne betreten konnte. Schließlich musste er die Band verlassen. Was Nicholas Müller schließlich gerettet hat, das schildert er jetzt in seinem Buch „Ich bin dann mal eben wieder tot“ und hier im Gespräch mit unserer Autorin Marthe Kniep.
Angst als Krankheit: "Ich bin dann mal eben wieder tot"
„(…) Angst blüht jedem, auch denen, deren Leben nicht auf Bühnen oder vor Kameras stattgefunden hat. In der Angst sind wir alle gleich, Adrenalin schießt durch unseren Körper. (Ich bin dann mal eben wieder tot, S. 86)“
Der Ex-„Jupiter Jones“-Frontmann Nicholas Müller lebt seit Jahren mit einer sogenannten generalisierten Angststörung. Damit ist die dauerhafte übermäßige Sorge um sich und seine Angehörigen gemeint, die Betroffene selber kaum kontrollieren können.
Bei Müller waren die Symptome der Angststörung 2014 so massiv, dass er nicht mehr auf die Bühne gehen konnte und sich in Behandlung begab.
Tod seiner Mutter: Wie die Angst entstand
Als Nicholas Müller das erste Mal „Panik bekommt“, weiß er noch gar nicht, wie ihm geschieht. Die Symptome begannen kurz vor dem unmittelbar bevorstehenden Tod seiner Mutter durch eine Krebserkrankung. Sie starb ein halbes Jahr, nachdem er bereits als junger Erwachsener seine geliebte Großmutter verloren hatte. Ein schwerer seelischer Schmerz, den er später in seinem Hit „Still“ musikalisch verarbeitet.
Die Schilderungen seiner Anfälle machen deutlich, wie heftig dieser Kontrollverlust für Körper und Seele ist:
„Plötzlich, mit einem Tosen in den Ohren, fuhr mir ein Schwindel quer durch den Körper, der mich fast von den Beinen riss. Ich musste mich festhalten, alles drehte sich. Meine Glieder wurden schwer. (…) Mein Blut schien mit doppelter Geschwindigkeit durch meine Adern zu jagen. (…) Jetzt lag ich dort, zwischen heiß und kalt und wähnte mich selbst dem Ende nah. (…) Und so schnell es kam, ging es dann auch wieder. (S. 41)“
Diagnose Angststörung – oft eine (späte) Erleichterung
In der Zeit darauf folgen weitere Panikanfälle. Doch niemand scheint zu bemerken, was wirklich hinter den Angstanfällen steckt. Das sollte sich erst Jahre später ändern. Nachdem er schon unzählige Male den Notarzt gerufen hatte, weil er wieder und wieder in Panik geraten war und Angst hatte zu sterben, geht er eines Tages in die kleine Arztpraxis seines Heimatdorfes.
Müller erinnert sich noch gut daran. Denn bis zu diesem Tag waren alle Fachleute auf der Suche nach körperlichen Ursachen. Die Ärztin aus dem „winzigen Kaff“ nicht. „Sie hat das Logischste von allem getan: Auf die Befunde geguckt, gesehen, dass es nichts Körperliches ist und auf die Seele geschlossen. Ich hab nicht erwartet, dass ich bei meinem Arzt in dem eigenen winzigen Kaff von früher ein akutes Seelenleiden mitgeteilt bekomme, wenn ich vorher schon bei etlichen Experten war, von denen keiner auch nur die Idee geäußert hat.“ Für Müller war es ein erleichternder Moment. „Endlich gab es einen Namen dafür, was ich hatte, auch wenn ich nicht gleich wusste, was ich damit anfangen soll.“
"Trauer müsste es als Schulfach geben"
Oft sind es unverarbeitete Schicksalsschläge, die in Ängsten oder Panikattacken ihren Ausdruck finden. Rückblickend und nach der Aufarbeitung mit einem Therapeuten ist es für den Sänger ganz klar, dass seine hohe psychische Belastung durch die Krankheit und den viel zu frühen Tod seiner Mutter mit den Angstanfällen in Verbindung stehen. Er ist mittlerweile sogar überzeugt: „Ich wäre viel schneller aus der Nummer raus gewesen, wenn ich gelernt hätte, zu trauern.“ So sehr er seinen Vater liebe, aber für diese „Gefühlssachen“ sei immer seine Mutter zuständig gewesen.
Nach ihrem Tod war er auf sich selber zurückgeworfen und musste erfahren, wie hilflos viele Menschen darin waren, ihm beizustehen. Und wie hilflos er selber war in seiner Trauer. „Es gibt so viele Menschen in so einer Situation, die verständnislos reagieren. Weil sie nicht wissen, wie man fühlt, wenn man trauert. Aber da gibt es nichts zu verstehen, sondern durchzustehen. Da will man an die Hand genommen werden. Das sollten wir Menschen viel mehr machen: Lernen, was man dann machen kann.“
Der sensible Sänger geht so weit zu sagen: „Trauer müsste es als Schulfach geben.“ Damit es weniger deprimierend klingt entwickeln wir im Interview das Schulfach „Seele“ und Müller die passende Zukunftsvision dazu: „Ich würde es super finden, wenn es eines Tages heißen würde: Die kleine Wibke hat in „Seele“ ne 1 geschrieben.“
Warum die ärztliche Diagnose so wichtig ist
Dass wiederkehrende Angstanfälle Ausdruck einer psychischen Krankheit sein können, wissen viele Menschen nicht. Doch Ängste können in unterschiedlichem Schweregrad auch bei vielen anderen psychischen Störungen vorhanden sein. Bei Depressionen oder Psychosen zum Beispiel. Die genaue Diagnose durch einen Facharzt ist deshalb wichtig - auch um die optimale Behandlungsmöglichkeit zu finden.
Hilfe durch Angehörige
Für Angehörige ist eine Diagnose wichtig, um sich gut auf den Betroffenen und seine Bedürfnisse einstellen zu können. Auch Müller weiß das aus leidvoller Erfahrung. „Für meine Frau war das damals ganz furchtbar. Das Zugucken. Aber auch, keinen Krankenwagen zu rufen. Und, dass sie den Raum verlassen kann, bis es vorbei ist.“ Denn ein wichtiges Ziel im Umgang mit der Angst ist es für Betroffene, zu lernen: Ich kann das durchstehen und sterbe nicht. Jedenfalls nicht heute.
Nicholas Müller weiß, dass er es seiner damaligen Frau und heutigen besten Freundin nicht immer leichtgemacht hat: „Man wird ja in seiner Panik auch nicht netter mit so viel Adrenalin im Körper. Ich war oft zu laut, zu harsch. Wütend darüber, dass sie das Richtige macht. Das haben meine Frau und ich gelernt, aber es war hart.“
Hilfe durch Medikamente
Bei Nicholas halfen anfangs Tabletten oder die Beruhigungsspritzen des Notarztes, die Spitzen der Angst zu nehmen. Doch für Müller war bald klar, dass Medikamente keine echte Lösung bringen. Er weiß aus Erfahrung und mittlerweile durch viele Therapiestunden, worauf es ankommt: „Man muss erst mal lernen, dass man nicht durch die Ruhe die die Medikamente auslösen, heilt, sondern durch das Durchhalten. Ich brauchte nicht die Tabletten, sondern das Durchhaltevermögen es ohne Arzt und Blaulicht zu schaffen.“
Aber Müller verteufelt Medikamente nicht generell. Er weiß jedoch, dass sie nur eingebettet in fachliche Gespräche einen wirklichen Entwicklungsprozess bewirken können.
Hilfe durch Psychotherapie
Kognitive Verhaltenstherapie nennt sich die Therapierichtung, die nachweislich bei Angststörungen sehr gute Erfolge erzielt. Auch für Müller hat sie viel bewirkt. Vorher hat er einige ambulante Therapieversuche hinter sich gebracht. „Ich habe mein Thema lange mit mir rumgeschleppt und verschiedene Sachen probiert. Aber wenn man bis zu einem halben Jahr auf ein Erstgespräch für einen Therapieplatz warten muss, ist das echt zu lange.“
Mangel an Therapieplätzen
Hier spricht Müller ein Defizit im Gesundheitssystem an, das sowohl Ärzte als auch Betroffene psychischer Erkrankungen schmerzlich erfahren müssen.
„Mich rufen öfter Leute an, die wissen, dass ich damit Erfahrung habe und fragen mich um Rat. Klar kann ich denen sagen, dass für mich die kognitive Verhaltenstherapie genau richtig war. Aber einige warten Monate, bis sie dafür einen Termin kriegen. Man kann sich 20 Mal im Jahr das Bein brechen und findet jedes Mal wieder einen, der das am selben Tag eingipst. Aber wenn die Seele im Eimer ist, muss man warten. Das ist ein Problem im System.“ Einige seiner Freunde haben sich in den vergangenen Jahren das Leben genommen, weil sie für ihre seelischen Nöte keinen Ausweg gefunden haben.
Diesen Gedanken habe Müller selbst nie gehabt. Denn er weiß von sich: „Ich hab viel zu viel Angst vor dem Tod, als das ich mir das Leben nehmen würde. Ich denke, es gibt immer eine andere Lösung. Aber durch meine Erfahrungen finde ich den Wunsch mancher Menschen verstehbar.“ So werden immer mehr Stimmen lauter, dass sich das Gesundheitssystem dahingehend verändern muss, jedem schnelle Hilfe zu ermöglichen.
Stationäre Hilfe in der Psychiatrie
Um endlich Herr über seine Krankheit zu werden, entschließt sich Müller kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter zu einem mehrwöchigen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik. Der Schritt in die Psychiatrie und die erste Zeit dort waren jedoch zunächst mehr als gewöhnungsbedürftig für ihn. In dem Kapitel seines Buches, das sich seinem Psychiatrieaufenthalt sehr eindrücklich widmet, beschreibt er die Gruppentherapie als „Bilderbuch-Vollklatschen-Versammlung“.
Oft habe er sich irgendwie fehl am Platze gefühlt, obwohl er wusste, dass auch er Hilfe braucht. „Man fühlt sich schnell verrückt auf der Psychiatrie. Die vielen Biografien zu hören hat oft genervt. Man schließt zwar schnell Freundschaften, aber da sind auch immer Leute, die einem gehörig auf den Keks gehen. Alle wollen eben sagen, was sie haben.“ Sich abzugrenzen von den vielen Geschichten anderer sei deshalb in dieser Zeit hilfreich gewesen.
Wie viele andere Patienten braucht auch Müller Zeit, um anzukommen und die angebotene Hilfe annehmen zu können. So bekommt er hier die Unterstützung durch Therapeuten und andere Patienten, die ihm rückblickend wirklich geholfen hat und sein Verständnis für die Krankheit total verändert hat. Der innere Druck von früher sei weniger geworden.
Außerdem hat sich seine Sicht auf die ihn ständig begleitende Angst vor dem Tod verändert. Heute denkt er: „Passieren kann immer was. Aber ich habe die Wahl, wie ich damit umgehe. Entweder ich mache mir den Stress und versuche zu verhindern, was ich eh nicht verhindern kann. Oder ich kontrolliere nicht. Heute versuche ich zu denken: Wenn es plötzlich passiert, dann war es halt so.“
Weitere Infos: Deutsche Angstselbsthilfe e.V.