Pflege zu Hause: Ich kann einfach nicht mehr!

Wer Menschen zu Hause betreut und pflegt, muss Enormes leisten. Hier erzählt eine Tochter, wie sie - trotz aller Liebe für den Vater - an ihre Grenzen gerät.

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Pflege zu Hause: Ich kann einfach nicht mehr! Foto: Kuzma / iStock
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"Manchmal schaue ich mir Fotoalben an, mit Bildern aus meiner Kindheit. Wie ich als kleines Mädchen an der Hand meines Vaters in die Ostsee laufe. Wie er mich auf dem Arm schlafend aus dem Auto in die Ferienpension trägt, in der wir immer Familienurlaub machten. Und wie mich meine Eltern an meinem ersten Schultag stolz an der Hand halten. Ich war damals so furchtbar aufgeregt, das weiß ich noch. Was ich auch gut erinnere: Papa tröstete mich. Er war immer da, auch später. Wenn es mal eng wurde oder ich nicht recht weiterwusste, den Mut verlor.

Heute hoffe ich jeden Tag, dass mir die Fotos helfen, das niemals zu vergessen. Wenn er mich in der Nacht zum zehnten Mal aus dem Bett klingelt, weil er nur wissen möchte, wie spät es ist. Wenn die Spucke aus seinem Mund sein Hemd durchnässt hat. Wenn ich das zweite Mal in einer halben Stunde seine Windel wechseln muss. Wenn er nach mir schlägt, weil er mich nicht mehr erkennt. Wenn ich ihn kneifen, schlagen, ihm wehtun möchte vor Wut und Erschöpfung. Wenn ich einfach nicht mehr kann.

Wenn die Pflege von Angehörigen zu viel wird

Erst ein Schlaganfall, dann noch einer. Und zwischendurch schlich sich auch noch die Demenz an. Dass mein Mann und ich meinen 71-jährigen Vater aus der Oberwohnung, wo er immer mit meiner Mutter gewohnt hatte, zu uns holen würden, war für mich nie eine Frage. Profipflege könnten wir auch nicht bezahlen. Meine Mutter hatte ihre Schwiegermutter bis zum Tod gepflegt, mein Vater dann meine Mutter. Bloß nie ins Heim, hatte sie immer gesagt. Bloß nicht ins Heim, sagte irgendwann auch mein Vater.

Seit einem halben Jahr liegt er jetzt im ehemaligen Zimmer unserer Tochter, die mit ihrem Freund in einer anderen Stadt lebt. Seit er lallt und sabbert, seine rechte Seite kaum noch bewegen kann. Seit er Windeln braucht und jemanden, der ihn füttert. Das wäre zu ertragen, vielleicht. Weil er eben mein Vater ist, weil ich auch mit ihm reden könnte, mit ihm lachen.

Die Demenz jedoch ist ein Teufel. Sie nimmt mir alle Vertrautheit, jeden Tag ein bisschen mehr. Oft erkennt er mich nicht mehr, guckt mich feindselig an, schlägt mit seiner schwachen Hand nach mir. Macht mir jeden verdammten Handgriff noch schwerer. Papa, lass das, sage ich dann. Und irgendwann werde ich wütend.

Neulich, zum Beispiel: Es war mitten in der Nacht, eigentlich wollte ich nur schlafen, schlafen, schlafen. Und Papa klingelte, immer wieder. Da habe ich ihn so fest gepackt, dass er wimmerte und anderntags blaue Flecken hatte. Es tut mir so leid, Papa, habe ich gesagt, geweint und seine Hand gestreichelt. Aber dann ist es doch wieder passiert. Als er sein Essen einfach aus dem Mund tropfen ließ, aufs frisch bezogene Bettzeug. Angeschrien habe ich ihn und auf den Arm gepufft. Dann bin ich aus dem Zimmer gelaufen, habe ihn in seinem Dreck liegen lassen. Er hat geklingelt und so gut er konnte gerufen. Ich saß hinter der Tür mit Tränen im Gesicht. Ich wollte ihn bestrafen und hasste mich gleichzeitig dafür.

Er ist dein Vater, sagt mein Mann, reiß dich zusammen. Aber er kann morgens aufstehen und zur Arbeit gehen, aus dem Haus, weg von allem. Ich bin alleine, kann nicht mal raus, wenn meine Tochter nicht gerade zu Besuch ist oder die Pflegerin, die einmal am Tag eine Stunde lang kommt. Aber ja, er ist mein Vater. Der immer lieb zu mir war. Der nichts dafür kann und sicher nie werden wollte, was er jetzt ist.

Sieben Jahre, sagt die Statistik, dauert es, bis ein dementer Mensch schließlich stirbt. Mein erster Gedanke, als ich das hörte: So lange halte ich nicht durch. Mein zweiter: Was bist du nur für eine undankbare Tochter, gönnst deinem Vater sein kleines bisschen Leben nicht mehr. Dabei will ich eigentlich nicht, dass er tot ist. Ich will doch nur, dass es aufhört. Dass die Fotos irgendwann wieder nur noch schöne Erinnerungen sind. Und nicht nur ein Mittel gegen Wut."

Studie: Pflege kann aggressiv machen

  • In Deutschland sind ca. 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig. Zwei Drittel werden von Angehörigen zu Hause betreut, meist Frauen.
  • 17 % der pflegenden Angehörigen leiden an Depressionen.
  • In einer aktuellen Studie gab ein Drittel der Befragten mit Pflegeerfahrung an, sich schon einmal unangemessen verhalten zu haben: 79 % von ihnen beschimpften/ beleidigten den Pflegebedürftigen, 6 % wurden körperlich aggressiv.

Was hilft, mit der Pflege zu Hause besser zurechtzukommen?

Diplom-Psychologin Dr. Doris Wolf sagt, was pflegenden Angehörigen helfen kann (weitere Tipps von ihr unter: www.psychotipps.com ):

  • Informieren Sie sich über Hilfsangebote: Beraten lassen kann man sich z. B. über barrierefreies Wohnen, Pflegehilfsmittel, Hausnotrufdienst, Tagespflege, Pflegehilfsdienste , Kurzzeitpflege, Pflegegeld.
  • Pflegebedürftigen Aufgaben überlassen: So stärken Sie das Selbstvertrauen des Angehörigen, geben ihm das Gefühl, noch zu etwas nütze zu sein und gebraucht zu werden. Für Sie ist es eine Entlastung.
  • Beziehen Sie andere mit ein: Selbst wenn Ihr Angehöriger nicht allein sein kann, haben Sie das Recht, sich Freiräume zu schaffen. Suchen Sie nach Menschen, die Sie entlasten können. Auch Geschwister und andere Familienangehörige sind verantwortlich, nicht nur Sie alleine.
  • Selbsthilfegruppen: Zu wissen, dass es anderen ähnlich geht, entlastet. Außerdem können Sie in einer Gruppe praktische Tipps bekommen. Auch in einem Forum können Sie sich austauschen und so nützliche Hilfestellungen und seelisch-moralische Unterstützung erhalten.
  • Hobbys bewahren: Gehen Sie weiter in die Gymnastik oder ins Kino, sonst kann es bei Ihnen leicht zu einem Burnout kommen. Mit anderen unbeschwert zusammen zu sein, stärkt Ihr inneres Gleichgewicht.

Seit dem 1. Januar 2015 gibt es dank der Pflegereform bessere Leistungen für Pflegebedürftige und Ihre Angehörigen.

Die seit Jahresanfang geltende Pflegereform ist noch wenig bekannt. Ein Drittel der Deutschen kennt sie nicht. Das ergab eine DAK-Umfrage. Hier die wichtigsten Änderungen:

  • Mehr Geld für Leistungen: Für die häusliche Pflege gibt es ab sofort mehr Geld. So wurde z. B. das Pflegegeld in Stufe I (ohne Demenz) von 235 auf 244 Euro erhöht, der Betrag für Pflegesachleistungen stieg von 450 auf 468 Euro. Eine Übersicht über alle neuen Leistungen unter www.bmg.bund.de .
  • Mehr Rechte für Demenzkranke: Demenzkranke in Pflegestufe 0 haben jetzt auch Anspruch auf Tages-/ Nachtpflege sowie Kurzzeitpflege.
  • Bezahlte Freistellung: Berufstätige, die kurzfristig die Pflege eines Angehörigen organisieren müssen (z. B. nach einem Schlaganfall), erhalten ab Jahresbeginn eine Lohnersatzleistung für eine bis zu zehntägige Auszeit vom Beruf - vergleichbar dem Kinderkrankengeld.
  • Höhere Zuschüsse für Umbauten: Umbaumaßnahmen, die dazu beitragen, dass Pflegebedürftige in ihrer Wohnung bleiben können, werden jetzt mit bis zu 4000 Euro bezuschusst (bisher 2557 Euro).