Die Frau hinter dem Kinderreim

Kaltblütige Mörderin oder zu Unrecht beschuldigt? Netflix macht Lizzie Borden zur Hauptfigur von ‘Monster’ Staffel 4

Seit über 130 Jahren sorgt der Fall Lizzie Borden für Spekulationen: War sie eine eiskalte Mörderin oder eine zu Unrecht Beschuldigte?

Original-Aufnahme von Lizzie Borden in schwarz/weiß.
Lizzie Borden wurde beschuldigt, ihren Vater und ihre Stiefmutter 1892 ermordet zu haben. Foto: IMAGO / United Archives International
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Der Mythos

Lizzie Borden took an axe,

And gave her mother forty whacks.

When she saw what she had done,

She gave her father forty-one.

Dieser populäre, extrem düstere Kinderreim trug stark zur Mythologisierung der Figur „Lizzie Borden“ bei. Dabei ist bezeichnend, dass der Reim nicht den Fakten entspricht, denn Abby Borden (Lizzies Stiefmutter) wurde durch 18 Axtschläge getötet, Andrew Borden durch 11.

Was an der Geschichte über die berühmte Axtmörderin entspricht überhaupt den tatsächlichen Geschehnissen? Die Wahrheit scheint aus heutiger Sicht schwer rekonstruierbar – kein Wunder, dass Lizzie das perfekte „Monster“ für die vierte Staffel der gehypten Netflix‘ Dokumentations-Serie macht…

Wer war Lizzie Borden?

Lizzie Borden wurde am 19. Juli 1860 geboren und lebte in Fall River, Massachusetts. Im März 1863 starb ihre Mutter, Sarah. Lizzie war zu diesem Zeitpunkt erst 2 Jahre alt. Ihre Schwester Emma (zu diesem Zeitpunkt ungefähr 12 Jahre alt) übernahm von da an Lizzies Erziehung.

Sie war noch immer ein kleines Kind von nicht mal 5 Jahren, als ihr Vater, Andrew Borden, erneut heiratete.

Seine Auserwählte war die 37-jährige Abby Durfee Gray, die nun Lizzies Stiefmutter wurde.

Die Familie Borden war wohlhabend, lebte aber eher abseits der höheren Gesellschaft, was Lizzie zunehmend störte, als sie älter wurde…

Der Tag, der Lizzie für immer berühmt machte

Am Morgen des 4. August 1892 wurden Andrew (69) und Abby Borden (64) brutal ermordet. Es war ein unerträglich heißer Tag, besonders für Massachusetts – die Bewohner des Borden Hauses begannen ihren Tag ganz gewöhnlich, Andrew Borden verließ früh das Haus, um Erledigungen zu machen, Ehefrau Abby und das irische Hausmädchen Bridget Sullivan (damals 26) nahmen Hausarbeiten auf. Lizzie schlief aus – sie sollte später angeben sie habe keine Lust auf Frühstück gehabt. Ihre Schwester Emma war an diesem Morgen nicht im Haus – sie hielt sich in Fairhaven auf, um Freunde zu besuchen.

Alles schien völlig normal, bis Lizzies Schreie den ruhigen Morgen durchbrachen. Sie hatte ihren Vater tot aufgefunden. Ermordet.

Ein Haus steht hinter einem Baum (schwarz-weiß Fotografie). Es handelt sich um das Haus der Bordens, in dem die Morde geschahen.
Das Familien-Haus der Bordens in Fall River (Massachusetts), 1892. Foto: IMAGO / United Archives International

Die Morde: Kommt nur Lizzie als Täterin in Frage?

Abby Borden starb zuerst. Ihr Körper wurde im Gästezimmer im 2. Stock des Hauses gefunden – 18 schwere Wunden wiesen darauf hin, dass jemand sie mit einer Axt oder einem axtähnlichen Gegenstand attackiert hatte.

Andrew Borden starb ungefähr zwei Stunden nach seiner Frau. Es schien, als sei er während seines Mittagsschlafes im Erdgeschoss des Hauses getötet worden. Hier deuteten elf Wunden ebenfalls auf einen Angriff mit einer Axt oder einer ähnlichen Waffe hin.

Im Haus waren zum Zeitpunkt der Morde (vermutlich zwischen 09:00 und kurz nach 11:00 Uhr) außer den beiden Opfern nur Lizzie Borden und das Dienstmädchen Bridget Sullivan.

Nach den Morden wurde innerhalb von ein paar Stunden ein portugiesischer Einwanderer festgenommen, seine Unschuld wurde jedoch schnell und zweifelsfrei bewiesen.

Bridget Sullivan wurde nie verdächtigt

Bridget Sullivan gab an, sich wegen der Hitze unwohl gefühlt und daher in ihrer Dachkammer schlafen gelegt zu haben. Der Mord an Andrew Borden müsste genau zu dieser Zeit stattgefunden haben, als das Dienstmädchen in der Dachkammer schlief.

Während Abby Bordens Ermordung im 2. Stock müsste Bridget jedoch im Haus unterwegs gewesen sein oder draußen Fenster geputzt haben – wie wahrscheinlich ist es, dass sie die bestialische und äußerst gewaltvolle Ermordung zweier Menschen nicht bemerkt und weder Schreie noch Geräusche eines Kampfes bemerkt hat?

Die Theorien reichen hier von einer Bridget, die sich aus Angst einfach rausgehalten hat bis zu einer Bridget, die mit Lizzie unter einer Decke steckte. Wirklich genauer ins Auge gefasst wurde sie von den Ermittlern jedoch nicht. Sie verließ nach dem Prozess das Land und verschwand komplett aus der Öffentlichkeit…

Lizzies Aussage: Kleine Widersprüche oder Lügen?

Lizzie Borden war zum Zeitpunkt der Morde 32 Jahre alt. Im Gegensatz zu dem Dienstmädchen könnte sie ein Motiv gehabt haben, ihre Eltern zu ermorden, was sie schnell in den Fokus der Ermittler rückte.

Zudem waren ihre Aussagen zu den Geschehnissen zum Teil widersprüchlich: Lizzie schien sich selbst nicht mehr sicher, wo sie zum Zeitpunkt der Morde war. Lesend in der Küche, Bügelwäsche im Speisezimmer, auf der Treppe, im Erdgeschoss…

1. Der Aufenthaltsort

Zum Zeitpunkt des Mordes an ihrem Vater will sie in der Scheune hinter dem Haus gewesen sein. Ihrer Aussage nach suchte sie dort nach Gewichten für eine Angelleine. Als sie nach ca. 15 bis 20 Minuten ins Haus zurückkehrte, sei ihr Vater tot gewesen.

Diese Aussage ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen zeigte die Scheune keinerlei Anzeichen, dass jüngst jemand dort gewesen war, denn eine dicke Staubschicht, Spinnenweben und Heu waren komplett unberührt. Darüber hinaus war Lizzie nicht bekannt dafür, jemals zu angeln – zumal es dafür ohnehin zu heiß war.

2. Das Kleid

Ein weiterer Streitpunkt: Lizzies Kleid. Zeugen zufolge trug sie noch am Morgen ein anderes Kleid als das, was sie trug als die Polizei eintraf. Alice Russell, eine enge Freundin Lizzies, sollte später aussagen, sie habe Lizzie zwei Tage nach dem Mord beobachtet, als sie ein Kleid zerschnitt und verbrannte. Laut Lizzie sei es voller Farbe gewesen.

Lizzies Schwester Emma sagte später im Prozess allerdings aus, das Kleid sei tatsächlich alt und voller Farbflecken gewesen.

Und: Wenn Lizzie die Bordens wirklich ermordet hätte, hätte sie innerhalb von ca. 2 Stunden nicht nur die Morde begehen und das Kleid wechseln müssen. Theoretisch müsste auch der Rest ihres Körpers mit Blut besudelt worden sein. Da es damals keine Duschen oder elektrische Haartrockner gab und die Frauen eigentlich immer langes Haar mit recht aufwendigen Frisuren trugen, scheint das eine recht kurze Zeitspanne…

3. Die nicht auffindbare Nachricht

Lizzie sagte mehrfach aus, Abby – oder „Mrs. Borden“, wie sie sie nur nannte – habe am Morgen der Morde eine Nachricht per Bote bekommen, die sie zu einer kranken Freundin rief. Sie habe daraufhin das Haus verlassen, woraufhin Lizzie sie nicht wieder sah.

Diese Nachricht wurde jedoch nie gefunden, niemand sah einen Boten oder Abby außerhalb des Hauses.

Vermutungen zufolge wollte Lizzie verhindern, dass jemand nach ihrer Stiefmutter sucht und den zweiten Mord entdeckt. Zudem könnte der Bote auch ein potenzieller Täter sein, ihre Behauptung platziert einen Unbekannten im Haus.

Die Befragung fand trotz der Bitte Lizzies ohne ihren Anwalt statt. Zudem soll sie täglich Morphin eingenommen haben, was ihre Wahrnehmung wie ihre Aussage beeinflusst haben könnte.

Ein weiteres Indiz: Der fehlgeschlagene Giftmord

„Ich glaube, wir wurden vergiftet.“
Abby Borden

Zwei Tage vor den Morden äußert Abby diese Vermutung gegenüber einem Nachbarn und einer Freundin. Am 2. August 1892 klagten Andrew, Abby und Bridget über Übelkeit, Erbrechen und Schwäche. Lizzie war nicht betroffen.

Am 3. August versuchte Lizzie in einer Apotheke Blausäure zu kaufen. Sie wolle damit ein Kleid reinigen. Der Apotheker Eli Bence weigerte sich, ihr das Gift zu verkaufen, da sie kein Rezept dafür hatte und ihm ihre Begründung nicht schlüssig erschien.

Diese Vorkommnisse wurden jedoch im Prozess nicht verwendet – das Gericht sah keine unmittelbare Relevanz, da keine Vergiftung der Bordens nachgewiesen werden konnte. Zudem konnte Lizzie Bordens Anwalt erfolgreich in Zweifel ziehen, dass es sich bei der Person in der Apotheke überhaupt um Lizzie gehandelt habe.

Das Motiv

Hätte Lizzie wirklich ein Motiv gehabt, ihren Vater und ihre Stiefmutter zu ermorden? Spekulationen darüber gibt es viele – einige Theorien sind wahrscheinlicher und handfester als andere…

1. Geld

Lizzies Vater war sehr wohlhabend – und bekanntermaßen auch sehr geizig. Geschenke an Abby Familie (wie ein Haus für Abbys Schwester) stießen sowohl Lizzie als auch Emma übel auf. Sie selbst waren finanziell vollkommen von ihrem Vater abhängig und konnten nicht frei leben.

2. Hass auf die Stiefmutter

„Mrs. Borden“, wie Lizzie Abby nur nannte, hätte eigentlich eine Mutterfigur für Lizzie sein können. Dies war jedoch offenbar nicht der Fall: Zeugen berichten von einer jahrelangen Abneigung – Lizzie fühle sich um das Erbe ihrer leiblichen Mutter betrogen.

3. Kein freies Leben

Als unverheiratete Frau im 19. Jahrhundert hatte Lizzie ohnehin nicht viele Freiheiten. Ihr Vater wurde als sehr religiös, konservativ und dominant beschrieben, was die Lage für Lizzie sicher nicht besser gemacht hat.

Allein ausgehen, Menschen begegnen oder gar Reisen waren für Lizzie undenkbar.

4. Unentdeckter Missbrauch

Vor allem späteren Spekulationen zufolge soll Andrew Borden seine Tochter missbraucht haben. Zumindest würde das die bestialische Ermordung der eigenen Eltern erklären.

Diese These wurde jedoch auf Berichte über Lizzies seltsames Verhältnis zu Männern und ihre Isolation gestützt. Beweise wurden nie gefunden

Der Prozess des Jahrhunderts

Erst nachdem die Sache mit dem verbrannten Kleid herauskam, wurde Anklage gegen Lizzie erhoben. Am 5. Juni 1893 begann der Prozess vor dem Gericht in New Bedford. Drei Richter und eine Jury aus zwölf Männern sollten über Lizzies Schuld urteilen.

Am 20. Juni zog sich die Jury zurück – nach etwa eineinhalb Stunden stand das Urteil fest: „Nicht schuldig“.

Zeugen waren vor allem Bridget Sullivan, das Dienstmädchen, Emma, ein Blutanalytiker und zwei Männer, die angaben gegen 11 Uhr einen Fremden in der nähe des Hauses gesehen zu haben.

Eine Mordwaffe konnte übrigens nie zweifelsfrei identifiziert werden. Zwar wurde eine vermeintlich blutbefleckte Axt entdeckt, diese war jedoch sehr stumpf, was nicht recht zu den Verletzungen passte, zudem war die Substanz, die nie zweifelsfrei als Blut identifiziert werden konnte, schon getrocknet. Die Axt lag zudem in der Scheune, die Lizzie laut den Ermittlern nicht betreten haben konnte - sie war nicht versteckt, sondern lag inmitten von anderen Werkzeugen. Der Stiel war abgebrochen.

Heutzutage geht man davon aus, dass die Morde eher mit einem Küchenbeil verübt wurden.

Wie lebte Lizzie Borden nach den Morden?

Lizzie wurde nur juristisch freigesprochen – die Menschen glaubten nicht an ihre Unschuld.

In Fall River wurde sie nach dem Freispruch geächtet, obwohl sie vor den Morden als respektabel und religiös galt, sich für die Kirche engagierte und auch ansonsten in Frauenvereinen und durch ihre Arbeit in der Sonntagsschule sehr gut integriert war. Dass sie schon immer eher ernst und kontrolliert und kaum lebenslustig war, wurde ihr im Nachhinein negativ angelastet.

Seltsamerweise wurde sie während des Prozesses noch vielfach unterstützt, sowohl durch Frauenrechtlerinnen als auch von Mitgliedern der gehobenen Mittelschicht, der sie selbst angehörte. Nach dem Freisprich schien sich das Blatt jedoch zu wenden...

Lizzie erbte nach dem Freispruch das Vermögen ihres Vaters und kaufte sich ein Haus in der noblen French Street in Fall River, in das sie mit Schwester Emma einzog. Ihren Namen änderte sie zu Lizbeth Borden und lebte nun das großbürgerliche Leben, dass sie sich angeblich immer gewünscht hatte: Sie reiste, investierte in Kunst, besuchte Theater und adoptierte einen Hund (wenn auch nur kurzzeitig).

Auch dies wurde im Nachhinein von vielen als Beweis ihrer Schuld gedeutet. Die Gesellschaft mied sie und Kinder spotteten mit dem noch heute bekannten Reim über sie.

1905 trennten sich die Schwestern im Streit, die Gründe sind nicht bekannt, es wurde jedoch gemunkelt, dass Emma Lizzies enge Beziehung zu der Theaterschauspielerin Nance O’Neil missbilligte. Ob diese Beziehung eine sehr enge Freundschaft oder romantischer Natur war, wurde nie geklärt.

Den Rest ihres Lebens verbrachte Lizzie zurückgezogen. Sie wurde öffentlich weiter gemieden, hatte jedoch enge Freunde um sich.

Am 1. Juni 1927 starb sie mit 66 Jahren an einer Lungenentzündung. Das Geheimnis um die Ermordung ihrer Eltern nahm sie mit ins Grab.

Quellen