Diese Mutter gab ihr Leben, um die Mörder ihrer Tochter zur Rechenschaft zu ziehen
Miriam Elizabeth Rodríguez Martínez suchte zu Lebzeiten die Mörder ihrer entführten Tochter und setzte sich unermüdlich für verschwundene Kinder ein. Die Selbstjustiz zahlte die Mutter mit einem hohen Preis: Ihrem Leben.
Tamaulipas, Mexico: Es ist 22.15 Uhr Ortszeit, der 10. Mai 2017, ein Mittwoch. Miriam Rodríguez Martínez steigt nach einem langen Arbeitstag aus ihrem Auto und läuft zu ihrer Haustür. Die 57-Jährige humpelt. Währenddessen hält ein weißer Nissan-Truck vor ihrem Haus. Ein Mann lässt die Scheibe herunter und fragt sie nach ihrem Namen. Dann fallen 13 Schüsse. Ihr Mann, der drinnen vor dem Fernseher sitzt, findet Miriam mit dem Gesicht nach unten auf der Straße liegend, die Hand in ihrer Handtasche vergraben, neben ihrer Pistole. Es ist mexikanischer Muttertag und Miriam Rodríguez Martínez ist tot.
Miriam Rodríguez Martínez lebte zwischen Gewalt und Korruption
Um die Geschichte von Miriam Rodríguez Martínez zu verstehen, werfen wir einen Blick auf den Ort des Geschehens.
San Fernando liegt im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas, knapp 150 Kilometer von der nördlichen mexikanischen Grenze zum US-Bundesstaat Texas entfernt. Diese Region gilt als eine der gefährlichsten in Mexiko. Die Mordrate lag 2016 weltweit auf Platz eins; die Zahl der Vermissten wird 2023 in Mexiko auf 70.000 Menschen geschätzt. 2011 wurde San Fernando bekannt durch den Fund von Massengräbern mit 72 lateinamerikanischen Migrant*innen. Die mutmaßlichen Mörder gehören zum Drogenkartell der Los Zetas, die Menschen weit über die Grenzen Mexikos hinaus noch heute ausbeuten, versklaven, erpressen, prostituieren, verstümmeln und ermorden.
Die Los Zetas formierten sich aus dem ältesten Drogenkartells Mexikos, dem Golfkartell. Sie wurde von ehemaligen Elitesoldaten gegründet. Laut der Drug Enforcement Administration (DEA) gelten die Los Zetas als die "technologisch am weitesten entwickelte und gewaltbereiteste Verbrecherorganisation Mexikos." Drogenschmuggel, illegaler Menschenhandel, Entführungen und Erpressungen – die Liste der Delikte ist lang.
Miriam Rodríguez Martínez' Tochter Karen wird entführt
Januar 2012: Miriam Rodríguez Martínez hat mit ihrem Mann drei Kinder: Ihre älteste Tochter Azalea, die jüngere Karen und den älteren Sohn Luis. Karens älterer Bruder Luis ist bereits weggezogen, aus Angst vor den Gewalttaten in seiner Heimat. Karen bleibt. Sie möchte die Schule beenden und hilft ab und zu im Cowboy-Kleidungsgeschäft ihrer Mutter aus.
Am 23. Januar 2012 sitzt Karen in ihrem Auto, um sich in den Verkehr einzufädeln. Links und rechts halten zwei Lastwagen an, die Insassen dringen in ihren Pickup ein und fahren mit ihr davon. Die Entführer bringen sie seltsamerweise zunächst zum Haus ihrer Mutter, geknebelt und gefesselt. Miriam Rodríguez Martínez ist zu dieser Zeit in Texas, um ihrem Zweitjob als Nanny nachzugehen. Dann klingelt es an der Tür. Ein Mechaniker von Karens Onkel kommt, um an einem Familienauto zu arbeiten. Die Entführer nehmen auch ihn mit. Beim ersten Telefonat mit den Entführern, die ein Lösegeld fordern, hört Miriam trotz schlechter Tonqualität den Namen "Sama". Er sollte noch wichtig werden.
Es folgen weitere Wochen nach Karens Entführung mit Anrufen, Drohungen und leeren Versprechungen. Um das erste Lösegeld zu bezahlen, nimmt die Familie einen Kredit bei einer Bank auf. Die Familie befolgt jede Anweisung der Entführer genau; Miriam trifft sich mit den Mitgliedern der Zetas, um ihre Tochter zurückzuholen. Doch vergebens.
Mit jedem gescheiterten Versuch schwindet die Hoffnung der Mutter, ihr Kind lebend zu sehen. Verzweifelt sagt sie zu ihrer Tochter Azalea, bei der sie inzwischen wohnt (von ihrem Mann war sie zweitweise getrennt): "Ich werde nicht ruhen, bis ich die Menschen gefunden habe, die Karen entführt haben. Ich werde sie einen nach dem anderen jagen, bis zu ihrem Tod." Laut Azalea habe sie ihre Mutter noch nie so entschlossen gesehen. Sie sei ab diesem Zeitpunkt ein anderer Mensch gewesen.
Die unermüdliche Suche nach Karen
Rodríguez Martínez wendet sich an die Behörden, die bekanntermaßen bei Entführungsfällen ebenfalls leere Versprechungen geben. Rodríguez Martínez arbeitet sich durch alle Ebenen der Regierung, doch niemand will der Mutter helfen, ihre Tochter zu finden. Ein Bundespolizist ist es schließlich, der sich dem Fall annimmt. "Als sie ihre Akten auf den Tisch legte, hatte ich so etwas noch nie erlebt“, sagte der Beamte der New York Times. "Die Details und Informationen, die diese Frau ganz allein zusammengetragen hatte, waren unglaublich."
Der Mechaniker, der damals ebenfalls entführt wurde, kommt frei. Miriam Rodríguez Martínez nimmt Kontakt zu ihm auf - er erinnert sich an einen der Entführer Karens: Sama. Miriam durchforstet Social Media, um den Mann ausfindig zu machen. Sie entdeckt ihn auf einem Foto einer Eisdiele, beobachtet ihn wochenlang.
Traurige Gewissheit: Karen Rodríguez Martínez ist tot
Am 15. September 2014, am mexikanische Unabhängigkeitstag, taucht Sama zufällig auf: Im Cowboy-Geschäft von Miriam. An diesem Tag arbeitet ihr ältester Sohn Luis im Laden, der inzwischen wieder in seiner Heimat wohnt. Er sieht Sama, ruft seine Mutter an, die sofort die Polizei alarmiert.
Sama wird festgenommen, verrät Namen und Aufenthaltsorte einiger Komplizen. Und er nennt den Beamten die Ranch, auf der die Leichen von Karen und weiterer Opfer begraben sind. Damit steht es fest: Karen ist tot.
Miriam Rodríguez Martínez erstarrt, als sie einen Schal von Karen und ein Sitzkissen aus ihrem Truck entdeckt auf der Ranch. Doch es sollte noch ein Jahr vergehen, bis sie ihre Tochter endlich beerdigen kann. Denn anfangs behaupteten Forensiker, Karen sei nicht unter den Dutzenden Leichen, die sie auf der Ranch identifiziert hatten. Doch Rodríguez Martínez glaubt ihnen nicht und setzt alles daran, dass die Leiche ihrer Tochter gefunden wird. Sie sollte Recht behalten: Eine Gruppe von Wissenschaftlern findet ein Oberschenkelknochenstück von Karen etwa ein Jahr nach Samas Festnahme.
Miriam Rodríguez Martínez ist noch nicht fertig
Innerhalb von drei Jahren nimmt Miriam Rodríguez Martínez fast jedes noch lebende Mitglied des Kartells fest, die ihre Tochter entführt hatten, um Lösegeld zu erpressen. Die meisten der Kriminellen versuchten mit dem erpressten Geld ein neues Leben zu beginnen.
Frustriert über die mangelnde staatliche Hilfe gründete die Mexikanerin eine Hilfsorganisation von Angehörigen vermisster Menschen, um selbst nach Verschwundenen in ihrer Gegend zu suchen. Miriam brachte mehr als 600 Familien zusammen und engagierte sich für die Aufklärung der Fälle. Sie war maßgeblich an der Festnahme von zehn Personen beteiligt, die ihre Tochter töteten – ein unermüdlicher Kampf, der sie am Ende das Leben kosten sollte. Das Streben nach Gerechtigkeit war ein Ausweg aus dem Schmerz. Doch der hatte seinen Preis.
"Es ist mir egal, ob sie mich töten"
Im März 2017 entkamen fast mehrere Gefangene aus dem Gefängnis in Ciudad Victoria, wo einige von Karens Mördern einsaßen. Besorgt bat Miriam die Regierung um Schutz. Die Polizei sagte, sie schicke regelmäßig Patrouillen zu ihrem Haus und ihrer Arbeitsstelle. Ob dem so war, ist nicht ganz klar.
Einen Monat später versteckt sich Miriam in der Nähe eines Hauses. Dort wohnt eine Frau, die an der Entführung ihrer Tochter beteiligt war. Als die Polizei die junge Frau schließlich vor dem Haus festnimmt, stolpert Rodríguez Martínez auf dem Weg zu ihnen und bricht sich den Fuß. Am Muttertag trägt sie noch ihren Gips und benutzt Krücken, als sie von 13 Schüsse getötet wird.
Zu sagen, dass Miriam Rodríguez Martínez eine mutige Frau war, ist untertrieben. Sie gab ihr Leben auf. Zu einem Freund sagte sie mal: "Es ist mir egal, ob sie mich töten. Ich starb an dem Tag, als sie meine Tochter töteten. Ich will dem ein Ende setzen. Ich werde die Leute ausschalten, die meiner Tochter wehgetan haben, und sie können mit mir machen, was sie wollen."
Miriam ist neben Karen begraben, umgeben von Zypressen auf einem Friedhof Es ist ein kleiner Trost für Luis and Azalea, die ihre Mutter und ihre Schwester hier am Grab besuchen können.
Quellen
Reportage aus der New York Times: https://www.nytimes.com/2020/12/13/world/americas/miriam-rodriguez-san-fernando.html
Artikel aus der Süddeutschen: https://www.sueddeutsche.de/panorama/drogenkrieg-in-mexiko-wenn-sie-mich-toeten-1.3502281
Artikel aus dem Guardian: https://www.theguardian.com/world/2017/may/12/mexican-woman-who-uncovered-cartel-murder-of-daughter-shot-dead-miriam-rodriguez
Artikelbild und Social Media: