Brief an meine Mama

„Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar!“

Liebe Mama,

heutzutage verkünden Sprüche auf Tassen, T-Shirts oder auch Jutebeuteln völlig inflationär, dass Mamas Superheldinnen sind. Aber weißt Du was? Genau das bist Du für mich: Eine Superheldin. Ohne Umhang und fast immer ohne Applaus, aber immer mit ganzem Herzen.

Brief an meine Mama: „Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar!“
Brief an meine Mama: „Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar! “ Foto: iStock
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„Wer stark ist, muss auch gut sein.”

Obwohl ich dazu geneigt bin, Astrid Lindgren in jeder Lebenslage Recht zu geben, muss ich dieses Zitat für Dich etwas umdrehen: Ich glaube, dass Du stark bist, weil Du gut bist und einfach immer das Beste – und zwar für jeden um Dich herum – tun möchtest. Und ein Glück scheinst Du über unerschöpfliche Kraftreserven zu verfügen: In 34 Jahren habe ich noch nie erlebt, dass Du gesagt hast „Ich kann nicht mehr“ (vielleicht hast Du es öfter gedacht, als ich ahne…). Vier (auf ganz unterschiedliche Weise nicht immer einfache) Kinder, ein Mann, den man auch zu nehmen wissen muss und ein Beruf, der ebenfalls jeden Tag neue Herausforderungen bereithält… Und trotzdem hattest Du immer Zeit: Zeit zum Zuhören, zum Vorlesen und später zum Diskutieren über jedes Buch, das ich verschlungen hatte, um mich zum Spring- und Dressur-Training oder zu Turnieren zu fahren und mich anzufeuern, mit mir furchterregende Matheaufgaben zu bekämpfen und so weiter und so fort.

„Zwei Dinge hatten wir, die unsere Kindheit zu dem machten, wie sie war – Geborgenheit und Freiheit.”

Ich bin mit Astrid Lindgrens Abenteuern großgeworden und nach ihrer Philosophie aufgewachsen – und zwar nicht nur, weil Du mir „Pippi Langstrumpf“, „Ronja Räubertochter“ und die „Brüder Löwenherz“ vorgelesen hast: Für mich war unser Zuhause als Kind wie als Jugendliche und auch jetzt als Erwachsene immer ein sicherer Ort – ein Ort der Geborgenheit. Der Grund dafür bist Du mit der Tatsache, dass Du nicht nur Geborgenheit schenkst, sondern auch Freiheit: Nicht jede Mutter würde ihre Tochter jeden Tag mit einer neuen (unmöglich aussehenden) Verkleidung oder in Reithosen in Kindergarten und Schule gehen lassen und auch den Opa ignorieren, der die Outfits seiner Enkelin irgendwann so peinlich fand, dass er sich weigerte, sie so irgendwo hinzufahren…

„Du bist aber nicht die anderen“ „Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar.“

Deine immer glückliche, viel zu laute und ständig plappernde Tochter hat mit elf oder zwölf Jahren irgendwann ihr Räuberherz verloren. Erwachsenwerden ist nicht leicht – vor allem nicht mit Dingen wie Tafelrechnen und kleinen fiesen Jungs, die damit drohen das geliebte Pony zu schlachten. „Lass dich nicht unterkriegen“ war Dein unermüdlicher Rat: Danke, dass Du mir nie geraten hast, mich anzupassen und dass Du auch meine dann einsetzende Introvertiertheit nie als negative Eigenschaft gesehen hast, egal wie oft die Lehrer kritisierten, dass ich im Unterricht nicht spreche.

„Sieh zu, dass du das Herz triffst! schrie er. Sieh zu, dass du mein Herz aus Stein durchbohrst! Es hat lange genug in meiner Brust gescheuert und wehgetan. Ich sah in seine Augen. Und in seinen Augen sah ich etwas Seltsames. Ich sah, dass Ritter Kato sich danach sehnte, sein Herz aus Stein loszuwerden. Vielleicht hasste niemand Ritter Kato mehr als Ritter Kato selbst.”

Es gibt Dinge, die kann auch die beste Mama der Welt nicht wieder gut machen. Wenn die Tochter die beste Freundin durch Krebs verliert, dadurch selbst ihr größter Feind wird und sich weder helfen, noch trösten noch umarmen lassen will – was tut man als Mutter dann? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, was Du getan hast: Du warst immer da und hast versucht mir alles leicht zu machen, das ich mir selbst schwer gemacht habe, hast mich umarmt, wenn ich um mich geschlagen habe und hast mich geliebt, obwohl ich mich selbst gehasst habe.

Liebe Mama, ich weiß, dass Du das Gefühl hattest mir nicht helfen zu können, aber das hast Du. Du und der Rest der Familie, ihr wart der Felsbrocken, an den ich mich klammern konnte und an den ich mich noch heute klammere, wenn irgendetwas schiefläuft.

„Liebe kleine Krumelus, ich will niemals werden gruss.”

Ich bin jetzt 34 Jahre alt – erwachsen, sollte man meinen – aber ich bin immer noch Deine Tochter und kann Kind sein, wenn ich Deine Hilfe oder Deinen Rat brauche. Gleichzeitig lässt Du mich aber auch erwachsen sein: Du zählst mittlerweile auch auf meine Hilfe und meinen Rat – und ich freue mich über jede Gelegenheit, Dir etwas zurückgeben zu können.

„Es steht ja wohl nicht in den zehn Geboten, dass alte Weiber nicht in Bäume klettern dürfen?”

Bevor Du jetzt empört bist: Ich glaube niemand, der Dich kennt, würde Dich als alt bezeichnen – heute wie schon immer hast Du die Hosen an und alles fest im Griff – wenn Du wolltest, würdest Du auch auf Bäume klettern. Aber vergiss nicht, während Du für mich und alle anderen da bist, auch für Dich selbst da zu sein, denn Du musst „ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor [d]ich hinzuschauen.“

Langer Rede kurzer Sinn: Danke, Mama – einfach für alles.

Deine Tochter

Esther

*Alle Zitate stammen von Astrid Lindgren bzw. aus ihren Büchern.

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