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Marine Barnérias im Interview: Wie ihre Multiple Sklerose für sie zu "Rosy" wurde

Marine Barnérias ist 21 Jahre alt, als sie die Diagnose Multiple Sklerose erhält. Im Interview schildert sie ihre erste Reaktion auf diese lebensverändernde Nachricht und wie für sie aus ihrer Multiplen Sklerose "Rosy" geworden ist.

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Mitten in ihrem Studium erhält die zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alte Marine Barnérias die Diagnose Multiple Sklerose. Ihre für viele ungewöhnliche Reaktion darauf: keine Behandlung, sondern eine sieben Monate lange Reise an das andere Ende der Welt, genauer nach Neuseeland, Myanmar und in die Mongolei. Warum Marine diese Reise unternahm und was bei dieser herauskam, verrät sie im wunderbarECHT-Interview.

Was war deine erste Reaktion, als du deine Diagnose erfahren hast?

Die erste Reaktion, wenn du von einer solchen Krankheit hörst, ist „Das ist unmöglich. Ich bin nicht gemeint. Ich werde gleich aufwachen.“

Am Anfang war es für mich nicht real. Darum wollte ich auch niemandem davon erzählen, nicht meinen Freunden, nicht meiner Familie. Ich konnte es überhaupt nicht akzeptieren. Ich habe mir gesagt: „Ich bin Marine. Ich bin nicht diese Krankheit Multiple Sklerose. Ich bin Marine und niemand muss wissen, dass ich Multiple Sklerose habe.

Die erste Reaktion, die man normalerweise bei solchen Neuigkeiten wie Multiple Sklerose, Krebs oder auch einer Scheidung hat, ist, dass man anderen zuhört. Man hört sich die Meinung seiner Mutter, seines Partners, seiner Freunde an und man ist vollkommen verloren. Sie denkt das, er denkt das – und ich? Wo bin ich in dem Ganzen? Was muss ich jetzt tun?

Ich wollte zuerst einmal auf jeden Fall meinen Job behalten, mich nicht auf meine Krankheit konzentrieren, sondern lieber darauf, Journalistin zu werden. Niemand musste wissen, was gerade eigentlich in meinem Leben passiert.

Als ich dann aber eines Tages aufgewacht bin und auf einmal nichts mehr sehen konnte, wurde mir bewusst, dass mein Körper versucht, mit mir zu reden. Es war wie ein elektrischer Schlag für mich. Ich hatte auf einmal all diese Fragen im Kopf: Warum mache ich diesen Job wirklich? Warum bin ich hier? Warum bin ich am Leben?

Aber mein Geist beschäftigte sich nicht mehr mit mir selbst. In meinem Kopf waren nur meine Freunde, meine Familie, mein Freund, die Ärzte.

Ich war mir sicher, dass mein Körper und mein Geist wieder eins werden mussten, um stärker zu sein und diese Tür zu meinem neuen Leben öffnen zu können. Damit musste ich anfangen.

Auch, wenn mir meine Familie, meine Freunde, sagen, dass das völlig verrückt ist, muss ich es machen und mich auf mich selbst fokussieren. Das zu tun war das Allerschwierigste, bevor ich meine Reise begonnen habe: Vor meiner Familie, meinen Ärzten zu stehen und ihnen zu sagen, dass ich nicht mit der Behandlung beginnen werde.

Warum hast du dich gegen eine Behandlung entschlossen?

Nicht, weil ich ihr nicht vertraue. Vielleicht ist die Behandlung gut. Ich bin nie gegen die Meinung der Ärzte gewesen. Ich wollte ihnen nur klarmachen, dass ich mit mir selbst im Einklang sein muss.

Und du dachtest, dass du das mit dieser Behandlung nicht schaffen würdest?

Ja. Für mich war es so. Wir sind natürlich alle unterschiedlich. Meine Meinung ist nicht zwingend gut, es ist aber meine Meinung. Und jeder Mensch muss in solch einem Fall seiner eigenen Meinung folgen.

Ich musste meinen Körper wieder spüren lernen. Wenn du gehst, spürst du deine Füße, wenn du wanderst, spürst du auch deine Arme. Du spürst deinen gesamten Körper. Im Alltag, wenn man arbeitet, mit seiner Familie, seinen Freunden zusammen ist, denkt man darüber nicht nach. Du sprichst, du trinkst, du isst, du tanzt, du gehst, du tust all diese Dinge, aber du denkst nicht richtig darüber nach und fühlst es nicht bewusst. Ich war mir sicher, dass mir meine Multiple Sklerose sagt, dass ich etwas anders machen muss.

Ich musste mir selbst bewusst werden und lernen, auf mich zu vertrauen. Das zu erklären, war vor meiner Abreise sehr schwierig.

Marine Barnérias im Interview: Über ihr Leben mit Multiple Sklerose
Marine in Neuseeland: Im Hintergrund sieht man den Mount Ngauruhoe (2291 Meter). Foto: Marine Barnérias, private Sammlung/Knesebeck Verlag

Was war das Ziel deiner Reise?

Ich habe dieses Projekt nie mit dem Ziel begonnen, mich zu heilen. Ich dachte nie, dass ich von meiner Reise zurückkommen und mich auf einmal viel besser fühlen würde. Ich habe von Tag zu Tag gedacht: "Okay, was ist der nächste Schritt? Der nächste Schritt ist, meinem Gefühl zu folgen." Mein Gefühl sagte mir, weit weg von allen Menschen zu sein, die ich kenne und nur mit mir allein zu sein, ohne die Ideen von anderen. Ich wollte vor allem in der Gegenwart leben.

Ich habe festgestellt, dass das Leben fantastisch ist, wenn man seinen Gefühlen und Empfindungen richtig vertraut. Anders als Tiere verlernen wir unseren Instinkten zu vertrauen. Für mich wurden meine Instinkte zu meinen besten Freunden. Schon als ich in Neuseeland ankam.

Ich war sehr mit ihnen verbunden. Und es ist unglaublich, wie sehr es dich mit anderen Menschen verbindet, wenn du dich auf deine Instinkte verlässt. Wenn du deinen Instinkten, deinem Gefühl nicht folgst, kann dir etwas Schlechtes widerfahren. Wenn du es aber tust, ist es unglaublich, wie das Timing im Leben auf einmal passt.

Die Ziele in den drei Ländern waren dennoch komplett unterschiedlich. In Neuseeland zum Beispiel war das Ziel, dass ich das Land so gut es geht zu Fuß bereise und dabei lerne, auf meine Instinkte zu vertrauen. Die schwierigsten Situationen, die ich dabei erlebt habe, haben mich viel über mich selbst gelehrt. Dabei musste ich mich auf die Gegenwart konzentrieren. Ich konnte nicht die ganze Zeit an die Zukunft denken und versuchen, sie zu kontrollieren. Ich musste stattdessen damit arbeiten, was das Leben mir in dem Moment gegeben hat. Anfangs habe ich trotzdem versucht, alles zu kontrollieren. Diese Mentalität musste ich loswerden. Ich musste akzeptieren, dass ich Multiple Sklerose habe.

Als ich angekommen bin, dachte ich "Ich habe Multiple Sklerose und mag es nicht." Anschließend dachte ich "Ich habe Multiple Sklerose, aber vielleicht wird alles gut." Dann ist mir auch bewusst geworden, dass ich den Begriff Multiple Sklerose nicht mag. Ich identifizierte mich nicht mit dem Wort. "Rosy" hingegen klingt so fröhlich. Danach war es eine ganz neue Reise.

Beim zweiten Stopp meiner Reise ging es um meinen Geist. Ich habe wirkliche Stille erlebt. Für mich war das damals komplett neu. Hier wollte ich lernen, mich auf mich selbst zu konzentrieren und so meinen Gefühlen noch besser folgen zu können. Es ist so einfacher, im Leben Entscheidungen zu treffen.

In der Mongolei ging es wiederum um meine Seele. Anders zum Beispiel der Geist, der über die Jahre beeinflusst wird, ist es für mich so, dass sich die Seele nicht verändert. Sie ist meine Identität. Ich musste meine Singularität für mich finden und Körper und Geist verbinden. Mitten im Nichts konzentrierte ich mich ganz auf mich.

Was die schönste/schlimmste Erfahrung während deiner Reise?

Ich habe keine Favoriten. Es gehört alles zusammen. Ich habe in jedem Land so viele schwierige aber auch schöne Momente erlebt, wenn ich diese nicht gehabt hätte, wäre es nicht meine Reise gewesen.

Gerade in diesen schwierigen Momenten war ich Rosy besonders nah. Darum waren sie eigentlich meine besten Momente.

Marine Barnérias im Interview: Über ihr Leben mit Multiple Sklerose
Manchmal muss man auch ohne Strom zum Kochen auskommen: So wie an diesem Abend in einer Hütte in Neuseeland. Zum Glück gibt es Stirnlampen. Foto: Marine Barnérias, private Sammlung/Knesebeck Verlag

Wie hast du dich auf unvorhersehbare MS-Schübe während deiner Reise vorbereitet?

Als ich meinen Ärzten erzählte, dass ich meine Reise machen würde, sagten sie mir, dass ich etwas mitnehmen müsste. Ich hatte also Medizin dabei, mit der ich allerdings in ein Krankenhaus hätte gehen müssen. Allerdings war ich in Neuseeland, Burma und der Mongolei mitten in der Natur.

Am Anfang habe ich noch dauernd an meine Medizin gedacht, aber Tag für Tag habe ich mich sicherer gefühlt und mir selbst mehr vertraut. Ich habe mir gedacht: "Vielleicht passiert etwas, wenn ich wieder zurück in Paris bin, aber in den nächsten acht Monaten wird alles okay sein." Ich war mir sicher, dass es Rosy gut gehen wird. Ab dem Moment, als Rosy in mein Leben trat, habe ich ihr gesagt "Wir gehen diesen Weg jetzt zusammen. Bitte zeig mir, wenn du mir wehtun willst, wenn du mir etwas sagen willst."

An einigen Tagen bin ich trotzdem aufgewacht und habe erst einmal überprüft, ob mein Körper noch richtig funktioniert, aber es war nicht mehr schlimm.

Wie geht es dir heute? Wie geht es Rosy?

Für mich war es so, dass meine wirkliche Reise erst nach meiner Rückkehr begonnen hat. Ich habe auf meiner Reise vor allem drei Türen geöffnet: Körper, Geist und Seele. Als diese Dinge, die ich auf meiner Reise gelernt habe, möchte ich auch heute noch in meinen Alltag integrieren.

Seit ich vor vier Jahren mein Projekt gestartet habe und vorübergehend nicht mehr sehen konnte, hatte ich keine Schübe mehr. Ich fühle, dass meine Krankheit immer noch da ist. Tests zeigen auch, dass ich nach wie vor Multiple Sklerose habe. Vielleicht werde ich morgen schon nicht mehr sehen können. Aber ich darüber denke ich nicht die ganze Zeit nach. Ich weiß, dass eine solche Zukunft möglich ist, aber ich verlasse mich auf mein Gefühl. Sicherlich würde Rosy sich bemerkbar machen und mir sagen "Sei vorsichtig. Ich bin hier", wenn ich weiterhin noch so viel Stress hätte wie früher.

Bist du Rosy heute noch näher?

Ich bin ihr auf eine andere Art nah. Ich bin ihr nah, weil sie ich ist. Jeder Tag ist ein Projekt mit ihr. Jetzt verreise ich immer noch jeden Monat einmal allein, wandere in den Bergen, schlafe in der Natur, schreibe mitten im Nichts. Das ist für mich eine Art Behandlung, eine Energiequelle. Wenn ich mich fühle, als bräuchte ich eine Pause, breche ich auf. Rosy hat mich gelehrt, nein zu sagen. Nach meiner Reise musste ich einen Platz für Rosy finden. Ihre Schwächen akzeptieren und lernen, dass ich nicht jeden Tag alles machen und schaffen kann.

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Ihren letzten MS-Schub erlebte Marine vor vier Jahren, bevor sie ihre Reise antrat. Seitdem geht es ihr gut. Ihr ist es jedoch wichtig, nicht so zu denken, als ob sie auf einmal geheilt wäre. Es kann jeden Tag etwas passieren. Aktuell hat sie sich allerdings dazu entschieden, sich nicht behandeln zu lassen. Sie möchte sich behandeln lassen, wenn sie ihre Krankheit wirklich spürt. Wir wünschen Marine alles Gute für ihren weiteren Weg!

Wer noch mehr über Marine und ihre Reise erfahren möchte, liest am besten ihr Buch "Bonjour, la vie. Aufgeben gilt nicht". Dieses soll übrigens niemandem vermitteln, dass man es ganz genauso machen soll wie Marine. Es geht ihr vielmehr darum zu vermitteln, dass man jeden Tag seinem Gefühl folgen sollte. Im Buch erzählt sie auch von ihrer Community Seper-Hero, die ihr eine "riesige Hilfe" war und sie bereits auf ihrer Reise unterstützt wie auch jetzt danach noch. Übrigens soll Marines Geschichte auch verfilmt werden. Zu rechnen ist mit dem Film im nächsten Jahr.

Marine Barnérias: Bonjour, la vie
Stück für Stück führt Marine in ihrem Buch durch ihre aufregende Reise. Foto: © Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München