Gefühlskälte als Persönlichkeitsmerkmal: Was ist Alexithymie?
Keine Gefühle zeigen können: Erfahre mehr über die Ursachen des Persönlichkeitsmerkmals Alexithymie, wie es sich auf Beziehungen und Sexualität auswirkt und was Betroffenen helfen kann.

- „Kalte Persönlichkeit?“ Was versteht man unter Alexithymie?
- „Gefühlskalte Menschen“: Was sind die Ursachen?
- Alexithymie: Wie äußern sich Symptome?
- Gibt es einen Zusammenhang zwischen Alexithymie und Sexualität?
- Emotionslose*r Parner*in: Wie gehe ich damit um, wenn mein*e Partner*in keine Gefühle zeigen kann?
- „Emotionslosigkeit“: Was kann ich tun, wenn ich selbst keine Gefühle zulassen kann?
Manche Menschen behalten ihre Gedanken und Emotionen lieber für sich, andere tragen ihr Herz auf der Zunge. Doch was, wenn jemand keine Gefühle zeigen bzw. diese verbal ausdrücken kann? Was wie Gefühlskälte wirkt, ist ein Persönlichkeitsmerkmal, für das die Betroffenen nichts können.
Psychotherapeutin Anke Glaßmeyer erklärt, was hinter dem Persönlichkeitsmerkmal Alexithymie steckt, wie es sich äußert, welche Ursachen es dafür gibt und wie man mit Alexithymie umgehen kann.
„Kalte Persönlichkeit?“ Was versteht man unter Alexithymie?
Anke Glaßmeyer: Alexithymie kommt aus dem Griechischen und heißt übersetzt so viel wie „keine Worte für Gefühle“. Der Begriff beschreibt eine Person, die Schwierigkeiten hat, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu benennen und von körperlichen Empfindungen zu unterscheiden.
Das heißt nicht, dass keine Gefühle da sind, sondern, dass der Zugang dazu fehlt oder blockiert ist. Viele Menschen mit Alexithymie spüren vor allem eine diffuse Anspannung oder einen körperlichen Druck, ohne genau sagen zu können, ob das Wut, Trauer oder Angst ist. Gefühle werden dann eher über den Körper wahrgenommen („Ich habe einen Kloß im Hals“), statt sie als Emotion bewusst zu erkennen.
Ich erkläre das in meiner Praxis oft so: Die Signale der Gefühle sind da, aber das „innere Wörterbuch“ fehlt, um sie zu benennen und auszudrücken. Zudem beobachte ich oft, dass Gespräche über Gefühle deshalb sehr sachlich oder oberflächlich bleiben. Für Beziehungen kann das eine große Herausforderung sein, weil emotionale Nähe und Austausch über Gefühle oft schwerfallen.
Alexithymie ist keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Außerdem lässt sie sich mit therapeutischer Unterstützung häufig gut bearbeiten.
Kurz gesagt: Alexithymie ist eine Art innere „Empfangsstörung“, bei der die Gefühle zwar gesendet werden, aber die Person sie nicht immer klar empfangen und benennen kann.
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„Gefühlskalte Menschen“: Was sind die Ursachen?
Anke Glaßmeyer: Die Ursachen von Alexithymie sind vielfältig. Ganz wichtig: niemand „verschuldet sie selbst“. Oft beginnt es schon sehr früh: Viele Betroffene wachsen in einem Umfeld auf, in dem nicht über Gefühle gesprochen wurde oder in dem emotionale Reaktionen als „übertrieben“ oder „unerwünscht“ galten.
Wenn ein Kind immer wieder erlebt, dass Gefühle keinen Platz haben oder sogar bestraft werden, dann lernt es, dass es besser sein kann, sich davon innerlich zu distanzieren. Über die Zeit kann so eine Art innerer Schutzmechanismus entstehen: Gefühle werden zwar gespürt, aber nicht bewusst erkannt oder benannt.
Neben diesen biografischen Einflüssen zeigen Studien auch neurobiologische Zusammenhänge. Bestimmte Verbindungen im Gehirn (vor allem zwischen den emotionalen und sprachlichen Arealen) scheinen bei Menschen mit Alexithymie anders ausgeprägt zu sein. Auch genetische Faktoren, chronischer Stress oder frühe Traumatisierungen können eine Rolle spielen.
Man unterscheidet außerdem zwischen zwei Formen:
Primäre Alexithymie gilt als eher stabil ausgeprägtes Persönlichkeitsmerkmal, das vermutlich teilweise angeboren ist.
Sekundäre Alexithymie entsteht häufig als Reaktion auf psychische Belastungen – zum Beispiel nach einem Trauma, bei Depressionen, Ängsten oder auch bei ADHS. In solchen Fällen dient die Abkopplung von Gefühlen oft als unbewusster Schutz vor Überforderung.
Kurz gesagt: Alexithymie ist selten „einfach so da“, sondern oft ein Ergebnis früher Erfahrungen in Kombination mit biologischer Veranlagung und ein verständlicher, wenn auch oft schmerzhafter Versuch, sich selbst zu schützen.
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Expertin: Anke Glaßmeyer
Neben der Arbeit in ihrer Praxis setzt sich Psychotherapeutin Anke Glaßmeyer für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ein. Auf ihrem Instagram Account „diepsychotherapeutin“ klärt sie über psychische Erkrankungen, ADHS und Selbstfürsorge auf, räumt mit Vorurteilen auf und gibt praktische Tipps. Mehr Informationen
Alexithymie: Wie äußern sich Symptome?
Anke Glaßmeyer: Menschen mit Alexithymie können auf andere oft eher sachlich, kontrolliert oder sogar emotional distanziert wirken. Das bedeutet aber nicht, dass sie nichts fühlen, sie können ihre Gefühle oft einfach nicht benennen oder einordnen.
In meiner Praxis erlebe ich oft, dass Menschen mit Alexithymie nach einem Streit eher eine innere Unruhe oder Verspannung spüren, aber nicht sagen können, ob es Traurigkeit oder Enttäuschung ist.Stattdessen beschreibt die Person nur: „Ich habe Kopfschmerzen.“ Das Gegenüber fühlt sich dann oft hilflos oder denkt, die Person wäre gleichgültig, dabei ist innerlich sehr wohl etwas los, nur eben nicht ersichtlich.
Auch im Alltag zeigt sich Alexithymie oft in Missverständnissen: Wenn eine Freundin weint, weiß die betroffene Person nicht, wie sie reagieren soll: ob sie trösten, zuhören oder abwarten soll. Es fehlt der „innere Kompass“ für Gefühle, sowohl für die eigenen als auch die der anderen.
Typisch ist außerdem, dass Emotionen mit körperlichen Symptomen verwechselt werden: Stress wird z. B. als Magenschmerz erlebt, Angst als Enge in der Brust oder Traurigkeit als Rückenschmerzen. Ohne Worte für Gefühle kann der Körper oft zum einzigen Kanal werden, um Emotionen auszudrücken.
Typische Anzeichen können sein:
Schwierigkeiten, Gefühle zu beschreiben, sowohl die eigenen als auch die von anderen
Verwechslung von Emotionen mit körperlichen Symptomen (z. B. Stress wird als Magenproblem erlebt)
Starkes Bedürfnis nach Kontrolle und Struktur
Eingeschränkte Vorstellungskraft, besonders im emotionalen Bereich
Probleme in sozialen Beziehungen, weil emotionale Reaktionen schwer greifbar sind.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Alexithymie und Sexualität?
Anke Glaßmeyer: Ja, den gibt es. Sexualität ist nicht nur ein körperlicher Akt, sondern auch ein emotionaler Prozess, der Nähe, Verbundenheit und Einfühlungsvermögen braucht. Da Menschen mit Alexithymie eben oft Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Gefühle zu spüren und auszudrücken, kann sich das auch in der Sexualität zeigen.
Ein Beispiel: Jemand mit Alexithymie kann körperliche Erregung durchaus wahrnehmen, aber er oder sie tut sich schwer damit, dieses Gefühl emotional einzuordnen. Statt z. B. zu merken „Ich fühle mich gerade erregt“, wird vielleicht nur ein allgemeines Unruhegefühl beschrieben oder der Fokus liegt rein auf dem körperlichen Aspekt, wie eine Art „Funktionieren ohne Fühlen“.
Manche Menschen erleben Sexualität deshalb eher körperlich und wenig emotional: Es geht mehr um den Akt als um die Nähe. Andere empfinden Intimität schnell als überfordernd, weil sie dabei mit Gefühlen konfrontiert werden, die sie schwer greifen können. Das kann dann dazu führen, dass Sexualität eher vermieden oder als anstrengend erlebt wird.
Typisch ist auch, dass sexuelle Bedürfnisse schwer zuzuordnen sind: Körperliche Anspannung wird dann als diffuse Unruhe oder Gereiztheit wahrgenommen, aber nicht unbedingt als sexuelles Verlangen. Umgekehrt kann die Schwierigkeit, Gefühle zu zeigen, in der Partnerschaft zu Frust führen, besonders dann, wenn sich die andere Person mehr emotionale Nähe wünscht.
Wenn eine Person von Alexithymie betroffen ist, bedeutet das nicht, dass er oder sie keine Sexualität empfinden oder leben kann, allerdings können der Zugang zu emotionaler Intimität und das gemeinsame Erleben erschwert sein.
Hier sind Geduld, gute Kommunikation und manchmal auch therapeutische Unterstützung hilfreich, um neue Wege, sowohl für die Betroffenen als auch für den Partner oder die Partnerin, zu finden.
Emotionslose*r Parner*in: Wie gehe ich damit um, wenn mein*e Partner*in keine Gefühle zeigen kann?
Anke Glaßmeyer: Das kann für eine Beziehung eine große Herausforderung sein, vor allem wenn man sich selbst mehr Nähe und Austausch wünscht. Wichtig ist: Wenn jemand keine Gefühle zeigen kann, heißt das nicht, dass er oder sie nichts empfindet oder einen ablehnt. Menschen mit Alexithymie fühlen durchaus, sie können es nur oft nicht in Worte fassen oder nach außen zeigen.
Ein Beispiel: Nach einem Streit wünscht man sich vielleicht eine Umarmung oder eine Entschuldigung. Stattdessen wirkt das Gegenüber vielleicht verschlossen oder reagiert sachlich. Das kann frustrierend sein, weil man das Gefühl hat, da kommt nichts zurück. Dabei steckt oft Unsicherheit oder Überforderung dahinter – die Gefühle sind da, aber der Zugang fehlt.
Hilfreich kann sein, den Druck rauszunehmen und stattdessen über konkrete Situationen ins Gespräch zu kommen: „Wie war das für dich?“ oder „Was hast du dabei gedacht?“ Auch Fragen nach körperlichen Empfindungen („Wo spürst du das gerade im Körper?“) können ein guter Einstieg sein.
Gleichzeitig ist es wichtig, die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn einer Person emotionale Nähe fehlt, darf und sollte sie das ohne Vorwürfe, sondern verständnisvoll, ansprechen: „Manchmal wünsche ich mir mehr Austausch darüber, wie es dir geht. Ich weiß, dass das nicht einfach für dich ist, aber ich würde mich freuen, wenn wir daran arbeiten könnten.“
Manchmal kann es auch helfen, sich Unterstützung von außen zu holen, zum Beispiel in einer Paartherapie, da Kommunikation bei Alexithymie oft eine besondere Herausforderung darstellt. Es geht darum, Verständnis und Geduld zu haben, ohne die eigenen Wünsche zu verleugnen. Der Zugang zu Gefühlen ist ein Prozess.
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„Emotionslosigkeit“: Was kann ich tun, wenn ich selbst keine Gefühle zulassen kann?
Anke Glaßmeyer: Allein die Tatsache, dass man sich diese Frage stellt, ist schon ein wichtiger erster Schritt. Viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens gelernt, Gefühle zu verdrängen oder gar nicht erst wahrzunehmen, weil sie früher vielleicht „zu viel“ waren oder nicht willkommen.
Ich sage meinen Patientinnen und Patienten oft: Wenn es schwerfällt, Gefühle zuzulassen, hilft es nicht, sich dazu zu zwingen. Stattdessen sollte man sich ihnen vorsichtig annähern.
Hilfreich können zum Beispiel folgende Ansätze sein:
Im Körper anfangen: Gefühle zeigen sich oft körperlich: als Enge in der Brust, Kloß im Hals oder Druck im Magen. Statt sich zu fragen „Was fühle ich?“, kann man erst einmal fragen: „Wo spüre ich gerade etwas?“, „Wie fühlt sich das an: warm, kalt, eng, leer?“
Alltagssituationen bewusst wahrnehmen: Wenn man emotional reagiert, zum Beispiel bei einem Streit, einer Nachricht oder einem Film, nicht gleich weitermachen, sondern kurz innehalten und sich fragen: „Was hat mich da gerade getroffen? Was macht das mit mir?“
Journaling nutzen: Aufschreiben, was einem durch den Kopf geht oder welche Gedanken und körperlichen Empfindungen man wahrnimmt, ohne Anspruch, gleich alles zu verstehen oder richtig zuzuordnen.
Laut aussprechen: Auch wenn es schwerfällt, hilft es manchmal, einfach zu sagen: „Ich weiß gerade gar nicht, was ich fühle, aber irgendwas ist da.“ Das kann schon eine Tür öffnen.
Therapeutische Unterstützung: Wenn es immer wieder schwerfällt, kann eine Therapie helfen, die Ursachen für die Blockade zu verstehen und den Zugang zu den eigenen Gefühlen Schritt für Schritt im eigenen Tempo zu üben.
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