Psychologie

Selektiver Mutismus bei Kindern: Wenn Kinder zu sehr schweigen

Selektiver Mutismus oder extreme Schüchternheit? ​Mutismus bei Kindern: Symptome, Ursachen, Therapie – was Kindern mit Mutismus hilft, erläutert Familientherapeutin Anne Wichtmann.

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Video: Glutamat

Autorin: Marthe Kniep

Selektiver Mutismus bei Kindern – was ist das eigentlich?

Welches Geräusch erklingt in deinen Ohren, wenn du an Spielplätze und Pausenhöfe denkst? Klar: fröhliches Geplapper, Kreischen, Kichern vielleicht auch Motzen und Pöbeln. Umso befremdlicher, wenn mitten drin ein Kind schweigt. Selbst dann, wenn es freundlich von Gleichaltrigen angesprochen wird. Das erscheint sonderbar, macht ratlos, weckt den Schutzinstinkt und den Wunsch zu helfen.

Schweigende Kinder geben uns Rätsel auf! Nur scheinbar wirken sie in Kindergarten, Schule und / oder der Öffentlichkeit wie stumm ( lat.: „mutus“), unter - zumeist vertrauten - Bedingungen sprechen sie dagegen wie ein Wasserfall!

Hier erfährst du mehr über die Hintergründe von selektivem Mutismus bei Kindern und über Wege, die diesen Kindern wieder zu mehr Offenheit verhelfen.

Mein Kind lügt: Was kann ich dagegen tun?

Ist das Kind bloß schüchtern – oder ist es Mutismus?

Spricht ein Kind nicht „ganz normal“, kommen bei Eltern und Pädagogen über kurz oder lang Zweifel auf: Ist das Kind bloß besonders schüchtern oder ist das Schweigen nicht mehr entwicklungsgerecht? Liegt selektiver Mutismus beim Kind vor? Wie soll es die Schule schaffen? Und wie wird es sozialen Anschluss finden? Genau diese Sorge ist es häufig, die Eltern mit ihrem schweigenden Kind zu einem Therapeuten führt, um sich fachlich beraten zulassen.

Die Bonner Logopädin und Systemische Familientherapeutin Anne Wichtmann arbeitet seit 15 Jahren mit schweigenden Kindern und ihren Familien. Anlässlich des Heidelberger Kongresses „Was ist der Fall und was steckt dahinter? Diagnosen in Systemischer Theorie und Praxis“ der Carl-Auer Akademie im Mai 2017 ließ sie ein interessiertes Fachpublikum an ihren Erfahrungen teilhaben.

Die Bonner Logopädin und Systemische Familientherapeutin Anne Wichtmann arbeitet seit 15 Jahren mit schweigenden Kindern und ihren Familien.
Die Bonner Logopädin und Systemische Familientherapeutin arbeitet seit 19 Jahren mit schweigenden Kindern und ihren Familien. Foto: privat

Ursachen für Mutismus bei Kindern: Jeder schweigt anders!

Weil jedes Schweigen einen individuellen Hintergrund hat, ist der Familientherapeutin in ihrer Arbeit der Blick auf das ganze System des Kindes wichtig: die Familie und ihre Geschichte und das soziale Umfeld des Kindes. Dazu gehöre auch zu hinterfragen, ob und wann es kritische Lebensereignisse gab, die dem Kind „die Sprache verschlagen“ haben.

Trennung, Tod, einen Unfall oder eine psychische Erkrankung im Familiensystem können Mutismus bei Kindern auslösen. Oder auch die Geburt eines Geschwisters. Es gelte zu schauen: An welcher Stelle ist das Kind vielleicht überfordert? Oder fühlt es sich bedroht?

Oft sei das „Schweigen ein Lösungsversuch für eine überfordernde Situation“, so die Expertin. Aus diesem Grund beginne die Therapie immer mit einer gründlichen „Anamnese“. Dies ist der Fachausdruck für das ausführliche Gespräch mit den Bezugspersonen und (soweit möglich) mit dem Kind, um die Hintergründe und bisherigen Erklärungsmodelle für das Schweigen zu erfahren.

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Mutismus: Kinder schweigen mehr als früher

Es sollten bei uns Großen die Alarmglocken angehen, wenn wir hören, dass heute mehr Kinder ins Schweigen gehen als früher. Das könne neben besonderen Lebensereignissen auch daran liegen, „dass heute schon bei Kleinen höhere Anforderungen an Kommunikation gestellt würden“, so Wichtmann.

Vielleicht würden wir es heute auch mehr beachten oder anders bewerten, wenn Kinder sich „still“ verhalten. Schweigsamkeit muss ja nicht zwingend ein Problem sein. Denn bewusst zusammen schweigen hat eine eigene Qualität, die in unserer hektischen Betriebsamkeit manchmal untergeht.

Ist schweigen krank?

Ob Schweigen Krankheitswert habe, hänge deshalb vor allem vom Leidensdruck ab. Und den haben viele der betroffenen Kinder, die sich nicht wie selbstverständlich mitteilen können und sich dies oft über längere Zeiträume aneignen müssen. Sie selbst sehen sich - mehr als andere - vor dem Problem: Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll!

Die Logopädin erklärt, warum es bei Mutismus bei Kindern nicht um ein intellektuelles Problem geht: „Manche Kinder können ihre gedankliche Innenwelt noch nicht altersgerecht in Sprache abbilden. Sie müssen noch neue Fähigkeiten erwerben, wenn es um die Frage geht: Wie kann ich was zu wem sagen, um mich auf das Glatteis zu bewegen, mit fremden Menschen zu sprechen und auf ihre Antworten zu reagieren?“

Aber auch die Familien leiden am Schweigen des Kindes und empfinden Hilflosigkeit, Scham oder Erklärungsnot.

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Welche Kinder sind von selektivem Mutismus betroffen?

Von selektivem Mutismus sind mehr Mädchen als Jungen betroffen und vermehrt Kinder mit bikulturellem Hintergrund oder Mehrsprachigkeit. Oft beginnen sie statistisch formuliert mit 2,8 bis 3,6 Jahren in bestimmten Kontexten auffällig still zu sein oder nichts mehr zu sagen, wobei zweisprachige Kinder später diagnostiziert würden. Studien geben an, dass 2,8 Prozent der Schülerschaft betroffen sind. Bei 40 Prozent der betroffenen Kinder liegen Sprachstörungen vor.

Bikulturelle und mehrsprachige Kinder finden sich oft in einer besonderen Situation wieder, erklärt Wichtmann: „Sie möchten dem Sprachcode der Herkunftsfamilie treu bleiben, sollen sich parallel dem neuen Sprachcode im Kindergarten öffnen. Manche sind regelrecht hin und her gerissen zwischen zwei Welten. Dann ist das Schweigen ein Ausdruck der Loyalität zur Familie.“ Wieder ein Punkt an dem deutlich wird, wie facettenreich das Thema Mutismus bei Kindern ist.   

Schweigen als kraftvolle Abgrenzung

Ängste spielen in diesem Zusammenhang jedoch die größte Rolle. Und es gibt tatsächlich Kinder mit „einer besonderen Anlage zur Ängstlichkeit und Kontaktscheue.“ Doch nicht selten haben ängstliche Kinder auch ängstliche Eltern. Daher sei die Mitarbeit der Eltern hier besonders wichtig, betont Wichtmann, „damit das Kind wachsen kann und Eltern es darin stärkend begleiten können“.

Angst spiele bei selektivem Mutismus eine große Rolle, sei jedoch nicht bei allen Kindern der Motor für ihr Schweigen. Wichtmann berichtet: „Ich habe immer wieder Jungs in meiner Praxis, die ausdrücken: „Angst ist es nicht.“ Das sind oft ganz mutige Kinder, die sich entschieden haben, zu schweigen. Der Umgang mit den eigenen Grenzen ist ein großes Thema dieser Kinder.“ So sei Schweigen oft ein „reaktiver Umgang“ der Kinder auf eine Situation, weil sie noch keine Fähigkeiten entwickelt haben, konstruktiv mit Grenzsetzung umzugehen, erklärt die Therapeutin.  

Ein Schlüssel läge darin, zu schauen, was das schweigende Kind gut kann. Zum Beispiel: Geheimnisse für sich behalten, gut beobachten, abwarten, Ruhe bewahren, den Überblick behalten. Im Schweigen liegt schließlich auch eine Kraft, die die Konzentration auf andere Fähigkeiten ermöglicht.

Trotzdem leiden viele Kinder, die gern sprechen wollen und denen es große Mühe bereitet, neue Wege zu gehen.

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Mutismus bei Kindern: Schweigen ist meist nicht das einzige Problem

Erschwerend hinzu kommt, dass 95 Prozent dieser Kinder mit Mutismus mit weiteren Diagnosen wie Spracherwerbsstörungen, Angst, Depression, Essstörungen, Enuresis (Einnässen) und Enkopresis (Einkoten) behaftet sind. Hierfür gibt es durchaus Erklärungsmodelle. Denn dass Bereiche wie Essen und Toilettengang zum Problem werden, könne durchaus „als Hinweis auf einen Konflikt des Kindes damit verstanden werden, wie es sich gut von der Umwelt abgrenzen kann. Im übertragenen Sinne geht es dabei um die Frage: Was von mir lasse ich raus und was lasse ich rein?  Wie bei der Sprache erweitert die Logopädin mit ihren Erklärungen das Verständnis Erwachsener für das Verhalten des Kindes.  

Neue Strategien entwickeln

Eine wichtige Entwicklungsaufgabe für schweigende Kinder sei es deshalb, schützende Strategien zu entwickeln, wenn ihnen eine außerfamiliäre Situation zu schaffen macht. Denn „manche dieser Kinder stehen schnell im Abseits und werden so leichter zu Mobbingopfern“, weiß die Fachfrau.

Einige stille Kinder seien jedoch auch sehr beliebt und freuen sich über die vielen Kinder, die sich kümmern und für sie sprechen. Ein Gewinn an Aufmerksamkeit, den kein Kind gern hergibt. Auch das ist Teil einer Therapie: Dem Kind zu helfen, andere Möglichkeiten in die Mitte zu stellen, um Freunde zu finden und sich angenommen zu fühlen.

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Mutismus: Wie Therapie Kindern helfen kann

Wichtig sei vor allem das „Nachlernen kommunikativer Fähigkeiten, um Kinder darin zu befähigen, eine gute Selbstwirksamkeit zu erleben“. Und dafür hat Wichtmann in ihrer langjährigen Arbeit eine Ansprache und kreative Methoden für die Kinder entwickelt, die vor allem wertschätzend, liebevoll und spielerisch sind. Fragen, beobachten, therapeutisches Spielen und Bestärken in jedem kleinen Fortschritt.

So werden zusätzlich „mit feinfühliger Begleitung durch die Eltern“ Veränderungen möglich. Mit dieser fachlichen Unterstützung können Kinder UND Eltern neue Ideen sammeln und Erfahrungen darin machen, wie sie gute Voraussetzungen dafür schaffen können, dem Kind Entwicklung zu ermöglichen. 

Dass Wichtmann selbst in der Therapie zu Anfang am meisten redet, liegt auf der Hand. Doch ihre Arbeit zeigt einmal mehr, dass Worte nicht alles sind. Sehr wohl aber, welcher Gewinn es ein kann, sich sprechend in die Welt einzubringen. Dort Worte zu finden, wo sie gebraucht werden. Und das kann jeder lernen. Wie so oft gilt auch hier: Je früher Hilfe in Anspruch genommen wird, desto leichter sind Veränderungen beim Mutismus bei Kindern möglich.

Mehr Infos und eine bundeweite Therapeutensuche findest du hier: 

  • www.selektiver-mutismus.de
  • www.anne-wichtmann.de

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