Sich nackt vor dem Kind zeigen – ist das okay? Das sagt eine Expertin!
Nacktsein ist für Kinder völlig normal. Doch sollten sich Eltern nackt vor dem Kind zeigen? Welches Verhalten ist angemessen? Eine Expertin hat Tipps.

Letztens kam ich aus der Dusche und meine vierjährige Tochter platzte ins Badezimmer. Sie musterte mich aufmerksam und stellte fest: „Du hast eine Scheide und ich auch.“ Ich bestätigte und trocknete mich ab. Situationen wie diese hatten wir schon häufiger. Auch mit ihrem Papa, der bereits als Baby mit ihr badete.
Für Kinder ist Nacktsein etwas Natürliches und im alltäglichen Zusammenleben nicht vermeidbar. Dennoch frage ich mich manchmal: Sollte ich mich lieber bedecken? Gibt es ein Alter, bei dem es unangebracht ist, sich nackt vor seinem Kind zu zeigen? Wo liegen die Grenzen?
Familiencoachin Julia Mensing sagt: „Es gibt nicht die eine richtige Reaktion“ – und hat fünf Tipps für Eltern im Umgang mit Nacktheit vor Kindern.
1. Akzeptiere, dass Nacktsein ein Teil des Alltags ist
„Wir dürfen uns bewusst machen, dass Nacktheit im familiären Alltag nichts mit Sexualität zu tun haben muss, sondern ein natürlicher Teil des Lebens sein kann“, sagt Julia Mensing. „Für die Kinder ist ein nackter Körper erstmal ein nackter Körper. Sie verbinden damit noch gar nichts Sexuelles.“
Kinder beginnen schon im Säuglingsalter, ihren eigenen Körper zu entdecken. Zunächst über den Tastsinn, dann über Bewegungen und später über gezielte Berührungen. „Ab etwa zwei Jahren entwickeln sie ein erstes bewusstes Körperbild“, erklärt Julia Mensing. „Sie wissen, dass sie Arme, Beine, Bauch und Genitalien haben und beginnen Unterschiede zwischen Körpern zu bemerken.“
2. Bleib authentisch
Ob Dusche, Badewanne oder Toilette: Im Badezimmer halten wir uns häufig nackt auf. Wenn uns unser Kind dann sieht, wie können wir als Eltern angemessen reagieren? „Es gibt nicht die eine richtige Reaktion. Wichtig ist nur: Sie sollte authentisch sein“, rät Julia Mensing. „Wenn wir versuchen ein Geheimnis daraus zu machen, wird es umso spannender für die Kinder.“
Kinder sind wissbegierig. Die Antworten sollten daher ehrlich und klar sein. „Wenn wir offen, gelassen und liebevoll reagieren, lernen Kinder, dass Körper nichts Peinliches sind.“
Dir ist es unangenehm, nackt Fragen über Körperteile zu beantworten? Du wünschst dir Privatsphäre im Badezimmer? Das ist verständlich. „In so einem Fall, kannst du dein Kind bitten, den Raum zu verlassen“, sagt die Familiencoachin. „Erkläre ihm, dass du dich erstmal anziehen möchtest und dann alle Fragen beantwortest.“
Kinder lernen den Umgang mit ihrem Körper und dem Thema Nacktheit in erster Linie durch das, was wir ihnen vorleben. „Wenn wir ihnen in Alltagssituationen offen und gelassen begegnen, vermitteln wir, dass Körper nichts Peinliches oder Verbotenes sind“, erklärt Julia Mensing. „Das ist gerade im Bezug auf Body Positivity wichtig. Dabei ist es hilfreich, von Anfang an eine klare und wertfreie Sprache zu verwenden.“
3. Nacktsein vor dem Kind: Hinterfrage deine Reaktion
Für manche Eltern ist das Thema Nacktheit schambehaftet. Die Scham kann sich in Wut äußern. „Zu reflektieren, wie die eigenen Eltern mit dem Thema Nacktheit umgegangen sind, hilft, die eigene Reaktion zu verstehen“, sagt Julia Mensing. Unsere Prägung und Erziehung spielt eine große Rolle. „Der Erziehungsstil war in den 80ern und 90er Jahren in großen Teilen noch anders und Nacktheit wurde meistens vermieden. Nacktheit wurde oft nur in einem sexuellen Kontext thematisiert.“
So kann es sein, dass man selbst ein negatives Körpergefühl entwickelt hat. „Vielleicht hat jemand als Kind oder Teenager wertende Kommentare bekommen oder unschöne Erfahrungen gemacht“, so die Familiencoachin. Wir sind heute Schönheitsidealen ausgesetzt und das prägt unseren Umgang mit Nacktheit. „All das setzt sich tief in unser eigenes Körperbild und beeinflusst, wie wir mit unseren Kindern über Körper sprechen oder umgehen.“ Dazu kommen religiöse und kulturelle Normen. In manchen Gesellschaften gilt es schlichtweg als unangebracht, sich nackt zu zeigen.
Julia ergänzt: „Wer lernt, den eigenen Körper anzunehmen und ohne Wertung zu betrachten, gibt Kindern die wertvolle Erfahrung mit, dass jeder Körper okay ist, so wie er ist.“
4. Beachte das Alter deines Kindes
„Eltern brauchen keine Angst haben, wenn ein dreijähriges Kind Fragen zum Körper stellt“, so Mensing. „Kinder sind in dem Alter mit dem Benennen der Geschlechtsteile schon oft zufrieden.“
Kinder ab vier Jahren interessieren sich aktiv für Geschlechtsunterschiede und Körperfunktionen, denn es ist Teil Identitätsentwicklung. „Dieser Entwicklungsschritt ist gleichzusetzen mit dem Erkunden der Umwelt – und dabei eine wichtige Quelle für ihre Antworten“, sagt Julia Mensing. Sitzt Mama oder Papa auf der Toilette, kann es sein, dass das Kind fragt: „Wie funktioniert das bei dir?“.
5. Ziehe und respektiere Grenzen
Wenn ein Kind zum Beispiel fragt, was ein bestimmtes Körperteil ist, können wir den richtigen Begriff sachlich nennen. „Das ist auch wichtig, wenn es um das das Thema Missbrauch geht“, gibt Julia Mensing zu bedenken. „Kinder sollten direkt die richtigen Begriffe vermittelt bekommen, damit sie sie auch gut benennen können.“ Auf diese Weise entsteht eine selbstverständliche und gesunde Haltung.
„Genauso wichtig wie diese Offenheit, sind unsere eigenen Grenzen“, sagt die Familiencoachin.“ „Kinder dürfen lernen, dass Privatsphäre etwas Wertvolles ist.“
Das bedeutet:
Wichtig hierbei sei es, dass wir ihnen aber auch zugestehen, alleine auf der Toilette zu sitzen. „Das Erlernen von Privatsphäre ist für Kinder deshalb so wichtig, weil es direkt mit ihrem Gefühl von Selbstbestimmung und Sicherheit verbunden ist.“ Wenn ein Kind erfährt, dass es über seinen eigenen Körper und über persönliche Räume mitentscheiden darf, entwickelt es ein gesundes Gespür dafür, wo seine Grenzen liegen.
„Privatsphäre bedeutet auch, dass das Kind erleben darf, dass seine Gefühle, Gedanken und Körperbereiche geachtet werden. Diese Erfahrung prägt das Selbstwertgefühl nachhaltig“, sagt Julia Mensing. Wer schon früh spürt „Meine Grenzen werden respektiert“, wird eher auch die Grenzen anderer achten.
Eltern sollten auf ihre eigenen Bedürfnisse hören und Grenzen setzen, indem sie z.B. einfordern: „Ich möchte jetzt alleine auf die Toilette, die Tür bleibt zu“. Julia Mensing: „Das zeigt, das Körpergrenzen normal sind. Kinder lernen am besten durch Vorleben.“

Julia Mensing ist ausgebildete Familiencoachin auf selbstständiger Basis. Ihr Fokus ist die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung, besonders im Umgang mit gefühlsstarken Kindern. "Bedürfnisorientiert heißt für mich nicht, dass immer alles harmonisch laufen muss – sondern dass wir versuchen, die echten Bedürfnisse hinter dem Verhalten zu verstehen. Von Kindern und genauso von uns Erwachsenen." Auf Instagram (@julia_mensing_familiencoach) teilt sie Impulse und Alltagstipps für ein liebevolles Familienleben.
Artikelbild und Social Media: Zinkevych/iStock