Überfordern wir unsere Kinder? So viel Förderung ist ok – laut Expertin
Viele Eltern animieren ihr Kind beim freien Spiel. Aber muss das sein? Und wie viele Kurse pro Woche zur Entwicklungsförderung sind sinnvoll? Eine Expertin klärt auf.

Fragen wie „Möchtest du mit dem Bagger spielen?“, „Willst du mal mit dem Laufrad fahren?“ oder „Wie wär es, wenn du mal wieder puzzelst?“ kommen dir bekannt vor, weil du sie so oder ähnlich schon mal zu deinem Kind gesagt hast? Wenn es um das freie Spiel des Kindes geht, mutieren viele Eltern zum Entertainment-Profi, weil sie glauben, das Kind müsse beim Spielen zusätzlich animiert werden. Doch ist das wirklich notwendig? Und: Wie viel Förderung ist zu viel? Familiencoachin Julia Mensing hat Antworten.
Warum ist das freie Spiel für Kinder so wichtig?
Je nach Alter, beschäftigt sich ein Kind unterschiedlich lang mit seinen Spielsachen, Rollenspielen und anderen Beschäftigungsmöglichkeiten. Sicher, ist, dass Kinder die meiste Zeit des Tages mit Spielen verbringen und dabei Entwicklungsphasen durchlaufen. So entdecken bereits Babys beim Spielen sich, ihre Umwelt und neue Fähigkeiten, wie Greifen, Schmecken, Sehen, Fühlen, Hören. Ab einem Alter von zwei Jahren wird ein Stein zum Auto oder der Teddy wird gefüttert. Mit drei Jahren entwickeln sie Rollenspiele, in Gruppe, mit den Eltern oder allein.
„Das freie Spiel ist kein "Lückenfüller" im Kinderalltag. Es ist das eigentliche Lernen“, erklärt Julia Mensing. „Wenn Kinder frei spielen dürfen, erforschen sie die Welt, üben soziale Rollen, verarbeiten Erlebtes, stärken ihre Selbstwirksamkeit und erleben echte Freude.“
Mitspielen, aber nicht animieren
Vor allem Kleinkinder und jüngere Heranwachsende spielen am liebsten mit ihren Eltern. Doch nicht alle Mütter und Väter spielen gern Friseur oder bauen mit Steinen einen Turm, andere haben einfach wenig Zeit. Ganz gleich, welcher Spiel-Typ du bist: Du brauchst kein Spielprogramm für dein Kind bereit halten. „Kinder sind im freien Spiel hochkonzentriert. Kein Erwachsener muss ihnen sagen, was zu tun ist, denn sie folgen ihren inneren Impulsen“, erklärt Julia Mensing.
Wenn Eltern ihrem Kind diesen Raum geben, lernt es Resilienz, Kreativität und Problemlösungskompetenzen. „Daher ist das freie Spiel, ohne das Einmischen von Erwachsenen, sehr wichtig für die Entwicklung. Denn wenn wir uns ständig einmischen oder das Spielen unterbrechen, senden wir unbewusst die Botschaft: ,Was du gerade machst, ist nicht so wichtig.' Dabei ist es für das Kind gerade hochbedeutsam.“
Statt sich einzumischen, sei es wirksamer präsent zu sein, sein Kind zu beobachten und da zu sein, wenn es uns braucht. „Das Freispiel würde ich nur im Notfall unterbrechen“, empfiehlt Julia Mensing. „Und auch bitte kein Kommentator vom Rand werden durch Aussagen wie ,Schau mal, das sind noch mehr Klötze`“.
Das freie Spiel muss unterbrochen werden? So klappt's ohne Streit
Wohl fast alle Eltern kennen diese Situation: Wenn wir loswollen, sind die Kinder vollkommen versunken in ihrer Welt. „Hier wende ich oft eine gut bewährte Strategie an: Ich gehe mit in das Spiel, um das Kind aus dem Spiel zu holen“, rät die Familiencoachin.
Julia Mensing nennt ein Beispiel: Das Kind baut auf dem Spielplatz eine Sandburg, die Mutter oder Vater möchte aber los. Da das Kind hochkonzentriert im Freispiel ist, hört es die Rufe des Erwachsenen nicht. Zeitangaben oder Begründungen machen dann wenig Sinn, denn das Kind hört sie schlichtweg nicht. „Ich sage dann sowas wie ,Eine tolle Sandburg, erklär mal wo der Eingang ist'. So komme ich mit dem Kind ins Gespräch“, erklärt die Familiencoachin.
Erst dann haben wir die Aufmerksamkeit des Kindes und können sowas sagen wie „Ich habe eine Idee: Wir machen ein Foto und zeigen es gleich Papa“ oder „Wir reiten wie die Sandritter zum Auto“. Auf diese Weise wird das Kind sanft aus dem Spiel geholt – ohne Streit, ohne Tränen.
Pekip, Schwimmen und Co: Zu viele Kurse sind nicht förderlich
Montags Turnen, mittwochs Musikkurs, freitags Schwimmunterricht: Der Wochenplan von Kindern kann schon ab einem Jahr aufwärts ziemlich voll sein. Überfordern wir unser Kind mit zu vielen Angeboten, die wir nach der Kita oder Schule wahrnehmen? „Es ist verständlich, dass Eltern ihren Kindern das Beste mitgeben wollen, doch Förderung darf nicht mit Beschäftigung verwechselt werden“, so Julia Mensing. Die Familiencoachin habe in den letzten Jahren beobachtet, dass früher ein Kursangebot pro Woche angenommen wurde und die Kinder heutzutage volle Terminkalender haben.
„Wir vergessen oft einen wichtigen Punkt: Die Gehirnentwicklung der Kinder“. erklärt Julia Mensing. „Viele Dinge können Eltern nicht fördern, denn Kinder können manches kognitiv noch nicht und das ändert auch kein Kurs.“ Gerade in den ersten Lebensjahren brauchen Kinder keine Kurse, so Mensing. „Sie brauchen sichere Bindungen, verlässliche Bezugspersonen und viel Zeit, um im eigenen Tempo die Welt zu entdecken.“
Die Expertin merkt an, dass es in der heutigen Zeit gar nicht mehr so einfach sei, Mama oder Papa zu sein. „Die Überinformation, gerade im Internet, trägt dazu bei, dass uns vieles suggeriert wird, was gar nicht notwendig ist“, sagt Mensing. Daraus entstehen Glaubenssätze, wie: „Es ist wichtig, dass ich mein Kind früh fördere“. „Mein Rat: Weniger ist mehr. Schnappt euch lieber eine Decke auf der die Kinder spielen können und ein, zwei weitere nette Mamas oder Papas für den Austausch.“
Ein übervoller Terminkalender kann laut Familiencoachin Julia Mensing bei Kindern zu
innerer Unruhe,
Gereiztheit und
Rückzug führen.
Der Grund: Das Nervensystem ist noch mitten in der Entwicklung, weshalb Kinder regelmäßig am Tag Pausen brauchen. „Wenn Kinder ständig von einem Programmpunkt zum nächsten hetzen, fehlt ihnen die Zeit, Erlebtes zu verarbeiten und zur Ruhe zu kommen“, sagt Julia Mensing. Ohne Langeweile gibt es keine Kreativität. „Kinder brauchen freie Zeit, um zu spüren, was sie selbst wollen.“ Doch oft können Eltern die Langeweile des Kindes nicht aushalten und bieten immer wieder neue Impulse an.
Wenn ein Kind sagt, dass es heute nicht zum Turnen möchte, sollten wir das Ernst nehmen. „Wir denken, wir bringen unserem Kind dadurch ,Durchhaltevermögen und Verlässlichkeit' bei“, so Mensing. „Doch in Wahrheit überfordern wir dann unser Kind – durch den Zeitdruck, den wir haben, um pünktlich beim Kurs einzutreffen, aber auch durch die Aktivität an sich.“ Nicht selten stecken Glaubenssätze wie ,Ich bin wer, wenn ich viele Facetten anbiete' dahinter, so, Mensing, die dazu führen, weshalb wir den Schwimmkurs nicht absagen.
Entwicklungsförderung Kind: So überforderst du dein Kind nicht
Kinder wechseln in den ersten Jahren ihre Hobbies häufig, denn sie probieren sich aus. „Der Schlüssel liegt darin, achtsam hinzuschauen: Was braucht mein Kind gerade?“, rät Julia Mensing. Ist da echte Neugier, z. B. am Schwimmen oder Tanzen? Haben wir den Kurs nur gebucht, weil die Freundin oder der Freund oder Kita oder Schule dorthin geht?
„Kinder entwickeln Fähigkeiten am besten, wenn sie intrinsisch motiviert sind, also aus eigenem Interesse handeln. Förderung funktioniert also nicht durch „mehr“, sondern durch das richtige Maß“, sagt Mensing. Es kommt nicht auf die Anzahl der Kurse an, sondern auf die zum Kind passenden. Erst ab dem Schulalter fällt es Kindern leichter ein Gespür für ihre eigenen Interessen zu entwickeln. Dann gehen die Kinder in der Regel auch gerne ohne Eltern zu den Angeboten.
Zum Schluss hat Julia Mensing noch einen weiteren Tipp: Wer sein Kind jenseits von Kursen fördern möchte, kann das am einfachsten (und günstigsten) in der Natur machen. „In meinen Beratungen empfehle ich gestressten Müttern und Vätern oft, mit Kaffee und Kind in den Wald zu gehen und sich einfach hinzusetzen und zu beobachten. Mehr braucht es manchmal gar nicht.“

Julia Mensing ist ausgebildete Familiencoachin auf selbstständiger Basis. Ihr Fokus ist die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung, besonders im Umgang mit gefühlsstarken Kindern. "Bedürfnisorientiert heißt für mich nicht, dass immer alles harmonisch laufen muss – sondern dass wir versuchen, die echten Bedürfnisse hinter dem Verhalten zu verstehen. Von Kindern und genauso von uns Erwachsenen." Auf Instagram (@julia_mensing_familiencoach) teilt sie Impulse und Alltagstipps für ein liebevolles Familienleben.
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