Keine Lust?

Sexuelle Anorexie: Wenn zu viel Lust die Lust killt

Wir sind umgeben von sexy Bildern und Videos. Zusätzlich wollen wir heute alles schneller, besser und bequemer haben. Das Phänomen: "Sexuelle Anorexie" erklärt.

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Video: Glutamat

Wenn in einer Beziehung die Lust auf Sex vergeht, schieben es viele Paare auf die äußeren Umstände: Stress, Job, Zeitmangel, Kinder oder Freunde werden schnell als Gründe angeführt. Ist ja auch naheliegend und zutiefst menschlich, dass man die Schuld erst einmal außen sucht und nicht bei sich selbst.

Dabei ist der Grund immer häufiger im eigenen Kopf zu finden: zu hohe Erwartungen. Und die müssen gar nicht aktiv oder bewusst hervorgerufen werden. In der Regel entwickeln wir Erwartungen unterbewusst. Wir lassen uns von aufreizenden Bildern erregen - und blenden aus, dass sie inszeniert sind.

Wir sehen fabelhafte Sexszenen in Filmen - und ignorieren, dass sie gestellt sind. Unter anderem, gehört eben dieser Aspekt zu der vielschichtigen sexuellen Funktionsstörung. Erfahre im Artikel mehr zum Thema sexuelle Anorexie. Welche Anzeichen darauf hindeuten können, welche Ursachen für die Störung möglich sind und was Betroffene tun können.

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Was ist sexuelle Anorexie?

Sexuelle Anorexie ist fachlich gesehen eine Unterkategorie der sexuellen Appetenzstörungen. Also solche Störungen, die den sexuellen 'Appetit', das sexuelle Verlangen betreffen. In ihrem Buch "Sexualtherapie bei Störungen des sexuellen Verlangens" erklärt Helen Singer Kaplan:

"Störungen der sexuellen Appetenz werden [...] in generalisierte und situative Typen unterschieden. Patienten mit generalisierter oder globaler verminderter sexueller Appetenz erleben eine umfassende 'sexuelle Anorexie', indem sie jegliches Interesse an jeglichen sexuellen Aktivitäten verlieren und bar jeglicher Sexualphantasien sind."

Ähnlich wie bei einer Sexualaversion, bei der Menschen Angst vor jeglichen sexuellen Kontakten mit jeglichen Partner*innen haben und sich davon abgestoßen fühlen. (Kaplan, S.41)

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Paar, das unter sexueller Anorexie leidet.
Foto: PeopleImages/iStock

Fachmediziner sprechen dann von einer sexuellen Funktionsstörung, wenn das geringe Verlangen mindestens sechs Monate anhält.

Zudem sollten Schwierigkeiten in den Bereichen sexuelle Appetenz, Erregung und Orgasmus mindestens bei 75 % der sexuellen Begegnungen auftreten. (Velten, Julia: Sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen. S.15)

Außerdem muss bei der betroffenen Person Leidensdruck bestehen, damit eine Störung mit vermindertem sexuellen Interesse festgestellt wird.

Zum Beispiel kann Asexualität auch als Fehlen jeglichen sexuellen Verlangens begriffen werden. Allerdings ist die verminderte Libido nicht mit Leidensdruck verknüpft, sondern Teil der sexuellen Identität. (Velten, S.16) Heißt: Im Gegensatz zu einer Appetenzstörung leidet die Person nicht darunter, eine "Behandlung" ist deshalb nicht nötig und sollte nicht aufgezwungen werden.

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In ihrem Fachbuch "Sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen" beschäftigt sich Julia Velten mit Diagnostik, Verlauf und Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen. In erster Linie für Ärztinnen und Ärzte, aber auch für jeden zu empfehlen, der sich tief in das Thema hineinlesen und sich gut über mögliche psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten aufklären möchte.

Was ist der Unterschied zu Sexsucht & wenig/keine Lust auf Sex?

Gründe für wenig Lust auf Sex gibt es viele, ist es die Lebensphase, wie zum Beispiel Sex nach der Geburt eines Kindes, Probleme in der Beziehung etc. 

Bei einer sexuellen Anorexie hingegen sitzen die Ängste tiefer, sind oft mit (traumatischen) Ereignissen oder anderen Leiden verbunden.

Unter dem Oberbegriff "Sexuelle Appetenzsstörung", heißt Störungen des sexuellen Verlangens/"Appetits", lassen sich mehrere Abstufungen unterscheiden. Von einer gesteigerten sexuellen Appetenz (Sexsucht) bis hin zu einer sexuellen Aversion (Sexualphobie) sowie alles, was dazwischen liegt, lassen sich, laut der Sexualtherapeutin Helen Singer Kaplan, die Abstufungen genauer definieren.

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Kaplan unterscheidet die sexuelle Aversion und verminderte sexuelle Appetenz im Gegensatz zur Sexsucht wie folgt: 

Gesteigerte sexuelle Appetenz: Sexsucht, intensives, spontanes sexuelles Verlangen und Fantasieren, zwanghaftes Sexualverhalten, häufige sexuelle Aktivität, unzureichende Kontrolle über sexuelle Impulse, Unzufriedenheit

Stark verminderte sexuelle Appetenz: Kein spontanes sexuelles Verlangen oder Fantasieren, schlechtes sexuelles Funktionieren, Sexualvermeidung, sehr seltene oder keine Sexualkontakte, Unzufriedenheit

Sexuelle Aversion: Sexualphobie, aktive Aversion gegen und/oder phobische Vermeidung von Sexualität, sehr seltene oder keine Sexualkontakte, Unzufriedenheit.

Die ausführliche Auflistung und Erklärung sowie noch mehr hilfreiche Informationen rund um das sexuelle Verlangen, findest du in Helen Singer Kaplans Buch "Sexualtherapie bei Störungen des sexuellen Verlangens". Dort zeigt die Sexualmedizinerin anhand von vielen Fallbeispielen auch unterschiedliche Beziehungsstörungen und ihre Therapie-Ansätze.

Die Sex And Love Addicts Anonymous (S.L.A.A.) definieren sexuelle Anorexie im Gegensatz zur Sexsucht wie folgt:

„ein zwanghafter Zustand, in dem die körperliche, geistige und emotionale Aufgabe, Sex zu vermeiden, das eigene Leben beherrscht.  Wie beim Hungern nach Nahrung kann der Entzug von Sex dazu führen, dass man sich mächtig fühlt und gegen alle Verletzungen geschützt ist."

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Die Anzeichen von sexueller Anorexie

Unter anderem können diese Verhaltensweisen dafür sprechen, dass du betroffen bist:

  • emotionale Distanz

  • kaum Interesse am Partner

  • immer weniger Lust, überhaupt in die Beziehung zu investieren

  • übermäßige Masturbation oder Konsum von Pornografie

  • Vermeidung von Sexualkontakt

  • Angst/Scham vor Intimität

  • Angst vor (unterdrückten) intensiven Gefühlen

  • Angst vor der eigenen Sexualität

  • Einsamkeit

  • Minderwertigkeitsgefühle

  • Selbstverurteilung

  • Unzufriedenheit

Was sind die Ursachen für sexuelle Anorexie?

Oft gehen sexuelle Funktionsstörungen mit anderen medizinischen Leiden, körperlichen oder psychischen Erkrankungen (zum Beispiel Depression) Hand in Hand. So können die Ursachen für das stark verminderte sexuelle Verlangen ebenfalls sehr divers und individuell sein.

Deshalb ist es immer ratsam, dir bei andauernden Beschwerden Hilfe bei deinem Arzt/Ärztin zu holen, damit alle wichtigen Faktoren deinem Leben berücksichtigt werden und anschließende Therapie-Möglichkeiten abgeklärt werden können.

  • Zum Beispiel ist es nicht überraschend, wenn Schmerzen beim Sex, Vaginismus oder Vulvodynie zu einem gehemmten Verlangen führen.

  • Genauso sollten allgemeine und sexuelle Probleme in der Beziehung, Stress im Job oder im Alltag erfragt werden.

  • Ein weiterer Aspekt sind religiöse oder kulturelle Hemmungen, was die eigene Sexualität angeht. Wenn beispielsweise Sex und Lust als etwas "Schlimmes" angesehen wird.

  • Kaum oder mangelhafte Sexualerziehung in der Jugend.

  • Schlechtes Körper- oder geringes Selbstwertgefühl können zu einer verminderten Libido führen. 

  • Emotionaler Missbrauch (in der Beziehung oder Kindheit)

  • Posttraumatische Belastungsstörung: "Sexuelle Übergriffe gelten als wichtiger Risikofaktor für sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen."  Posttraumatische Symptome auch ohne den Hintergrund des sexuellen Missbrauchs führen häufig zu großen Problemen in der Alltagsbewältigung, was sich auch auf die Sexualität auswirkt. (Velten. S.20)

  • Essstörungen: Obwohl sexuelle Anorexie nicht mit der Suchtkrankheit Anorexia nervosa (Magersucht) zu verwechseln ist, leiden Betroffene von Essstörungen häufig auch an verminderter Lust.  Dies kann sich "in niedrigem sexuellen Verlangen, Orgasmus Problemen, starker Ablehnung des eigenen Körpers oder Ekel vor körperlicher Intimität manifestieren." Velten, S. 20)

  • Unrealistische Erwartungen an Sex: Filme und andere Medien in unserem Leben können ein unrealistisches Bild davon prägen, was ein gutes Sexualleben ist, wie oft wir Sex haben sollten, wie und wie lange. Durch diese Reizüberflutung kann Versagensangst entstehen oder zu zu hohen Erwartungen an den Partner*in führen, die nicht erfüllt werden, was wiederum zur sexuellen Anorexie führt.

Haben wir zu hohe Erwartungen an Sex?

Auch wenn wir im Grunde wissen, dass sie nicht die Realität wiederspiegeln, diese Cellulite-freien Frauenpos, die durchtrainierten Männerbäuche, eskapadenfreien Sexszenen und multiple Orgasmen in der Film- und Werbebranche. Sehnsüchte wecken diese Dinge trotzdem in uns - und lassen die "echte" Welt - unsere Realität - daneben langweilig erscheinen.

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Wer glaubt, seine Lust mit Pornos (meist Männer; die Deutschen führen die Rangliste im Pornokonsum an - über 30 Prozent aller Internetnutzer surfen auf Sex-Seiten im Internet) oder romantisch-erotischen Filmen (meist Frauen) wieder aufleben zu lassen, bewirkt dabei das Gegenteil: Die Lust auf "echten" Sex vergeht noch mehr, weil die Kluft zwischen Fiktion und Realität wächst.

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Die Bezeichnung "sexuelle Anorexie" bezeichnet das Phänomen sehr treffend. Betroffene konsumieren - ganz gleich ob aktiv oder passiv - so viel Sex, bis es ihre Lust zerstört. Eine Analogie zur Magersucht, bei der man immer mehr den Appetit verliert. Das Vermeiden von Sex mit dem Partner, der "Appetitverlust" auf den Körperkontakt mit einem realen Menschen - der Name "sexuelle Anorexie" trifft ins Schwarze.

Betroffene bevorzugen Masturbation statt Sex mit dem Partner. An sich selbst hat man schließlich nur die Erwartung, zum Orgasmus zu gelangen. Zudem geht es oft schneller und ist "bequemer". Vom Partner dagegen erwartet man ein Feuerwerk, eine erfüllte Sexfantasie, überirdischen Sex - wie im Film eben.

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Gleichzeitig wächst in einem selbst die Angst, diesen Bildern und Anforderungen nicht gerecht zu werden: Man sieht eben nicht aus wie Angelina Jolie bzw. Brad Pitt. Die Angst, abgewiesen zu werden steigt an, das Selbstwertgefühl sinkt. Die Folge: Frustration, Aufbau einer körperlichen Distanz zum Partner, in Extremfällen sogar Trennung und anschließende Beziehungsunfähigkeit.

Wer ist besonders gefährdet an sexueller Anorexie zu erkranken?

Die häufigste Form der verminderten Appetenz ist der sogenannte situative Typ. Bei dieser fühlt sich der Betroffene in ihrem /seinem Verlangen gehemmt, wenn es um einen bestimmten Partner oder Partnertypen geht. Masturbation, sexuelle Aktivität mit anderen Personen und erotische Fantasien empfinden sie aber als angenehm. (Kaplan, S.41)

Laut Kaplans Bericht hatten insgesamt 72% ihrer Patient*innen, die von verminderter Lust betroffen waren, partnerspezifische Probleme. Der Rest hatte umfassende Probleme mit Sexualkontakten (generalisierte Typ).

Dabei schreibt die Sexualtherapeutin, dass die generalisierte Form öfter bei Frauen auftrat, während die situative eher bei den Männern zu verorten war.

Das Gefühl noch nie sexuelles Verlangen gespürt und sogar Angst vor sexuellem Kontakt zu haben, betrifft laut Kaplan häufiger Frauen.

Insgesamt leiden immer mehr Menschen unter sexueller Anorexie. So beobachteten italienische Forscher der Universität von Padua schon 2011 dieses Phänomen und haben es als eine Art Sexmagersucht, definiert.

Was tun bei sexueller Anorexie? Behandlung & Vorbeugung

Wie bei den meisten unterbewusst entstehenden Krankheiten, ist auch hier der erste Schritt, sich selbst darüber im Klaren zu werden, dass man betroffen ist. Wer sich selbst hinterfragt, kann die Ursachen schnell überblicken.

Der zweite Schritt besteht darin, mit dem Partner in Kontakt zu treten, sich offen auszusprechen und zur Not einen Paartherapeuten, Sexualtherapeuten oder Arzt/ Ärztin zu Rate zu ziehen. Gegenseitiges Verständnis ist der erste Schritt zur Heilung einer sexuellen Anorexie.

Doch es gibt mittlerweile viele (Selbsthilfe-) Bücher, die Paaren in langjährigen Beziehungen bei der sexuellen Anziehung helfen. So schreibt der Sexualtherapeut David Schnarch, dass es in einer Beziehung immer einen Part gibt, dessen Libido schwächer ist, als das des*r Partner*in.

Darüber hinaus schreibt er, dass sich das sexuelle Verlangen im Laufe unseres Lebens in stetigem Wandel befindet. In seinem Buch "Intimität und Verlangen - Sexuelle Leidenschaft in dauerhaften Beziehungen" gibt David Schnarch zahlreiche Tipps und Erklärungen, aber auch gute Infos über Therapie- und andere Hilfsangebote. 

(ww7)

Quellen

  • Schnarch, David: Intimität und Verlangen: Sexuelle Leidenschaft in dauerhaften Beziehungen, Klett-Cotta, 2012.

  • Singer-Kaplan, Helen: Sexualtherapie bei Störungen des sexuellen Verlangens, Thieme, 2006.

  • Velten, Julia: Sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen. Fortschritte der Psychotherapie, Hogrefe, 2018.

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